Dorfgemeinschaft zwischen den beiden Weltkriegen

In den Zeiten von Not und Entbehrung gehen die Menschen aufeinander zu

und praktizieren Gemeinschaft.



Vieles von dem, was unser Dorfleben in Schönau ausmacht, habe ich bereits unter „Kinderarbeit“ beschrieben. Doch da ist noch manches erklärungswürdig geblieben. Wenn ich später einmal durch Wiesen und Felder wandern werde,  sehe ich vielleicht einen einzigen Landwirt mit Traktor einsam auf einem Feld die Furchen ziehen. Und weit und breit wird kein weiterer Mensch zu sehen sein.

Praktikable Regelungen ohne Juristen

In meiner Jugendzeit in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es nur sehr wenige Feldwege und diese erschließen längst nicht alle  verstreut liegenden  kleinen Parzellen. Diese sind zwar vor langer Zeit aus großen Grundstücken hervorgegangen, aber wegen der stattlichen Kinderzahl in den einzelnen Familien immer weiter aufgeteilt worden. Um nun auf diese Felder oder Wiesen zu gelangen, muß man vielfach die Grundstücke anderer Bauern oder Landwirte überqueren. Das würde schlimmen Ärger geben, hätte man sich nicht auf eine praktikable Regelung ohne Rechtsanwälte und Richter geeinigt. Also: Nach der Ernte wird im Dorf gemeinsam festgelegt, welche Nutzungen in den jeweiligen Fluren für das kommende Jahr in Frage kommen. Nun ist ja ein gewisser Fruchtwechsel aus Gründen der Verhinderung von Nährstoffmangel im Boden, wie er bei gleichbleibender Nutzung, zum Beispiel bei Monokulturen eintritt, zwingend notwendig und auch übliche Praxis geworden. So folgt zum Beispiel auf Getreide im nächsten Jahr Hackfrucht oder umgekehrt. In den bäuerlichen Kleinbetrieben der Eifel gibt es keine Monokulturen, weil man als Selbstversorger eine breite Anbaupalette für den Eigenbedarf braucht. Dies ist auch von Vorteil in den Jahren, die bei einer Getreide- oder Fruchtart eine Mißernte bescheren. So wird man auch dann wenigstens vor allzu großer Not bewahrt.

Jetzt schauen wir einmal vorwitzig auf die Flur, auf der man per Einigung nach der letzten Ernte, also vor dem vergangenen Winter, Roggen gesät hat. Da die Zeit der Reife für diese Getreideart gekommen ist, hat man den Zeitpunkt der Mahd genau festgelegt und jetzt wimmelt es auf allen Feldern ringsum von Menschen, die sich freundlich grüßen mit: „Gott helf' Euch“.  „Gott dank Euch“, ist die Antwort. Diese Begrüßungsformel ist obligatorisch und wird selbst dann als Einleitung benutzt, wenn noch weitere Wünsche wortreich geäußert werden. Die Ernte erfordert,  wie bereits im vorhergehenden Artikel erwähnt, wegen des Fehlens moderner Mähdrescher oder Binder, den Einsatz von vielen Personen, jung und alt.

Wie fängt man einen Hasen?     Zum Nachmittag bringen die noch jüngeren, nicht in die Feldarbeit einbezogenen Kinder, den Kaffee mit Butterbroten. Dann kommt man von den benachbarten Feldern und setzt sich auf Getreidegarben zum gemein-samen Kaffeetrinken mit einem kleinen Plausch zusammen. Hin und wieder, und das ist auch alle Jahre so, wird einer der Jugendlichen gefragt, ob er Salz mitgebracht habe. „Salz,-

wozu“ . „Nun, wenn Du einen Hasen siehst und ihn fangen willst, brauchst Du ihm nur Salz auf den Schwanz zu streuen und Du hast ihn gleich.“ Ich weiß, Ihr kennt den Witz bereits. Abends geht man ohne Hasen nach Hause. Aber, die übrig gebliebenen  

Butterbrote, allgemein „Hasenbrote“ genannt, werden mit nach Hause genommen und, Gott weiß wieso, von den kleinen Kindern abends mit viel Appetit gegessen. Die Gerätschaften und selbst die Ketten für das Anspannen der Zugtiere bleiben nachts auf den Feldern dort zurück, wo sie am nächsten Tag wieder gebraucht werden. Es kommt nichts weg.    



Kaffeepause während der Getreideernte

Getreidegarben sind zu „Kästen“ zusammengestellt worden. Solche Bilder wird es Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr geben.



Wer im Dorf baut oder in ein bestehendes Haus umzieht, bzw. einen eigenen Hausstand gründet,

„setzt die Nachbarschaft ein“,             wie man das nennt. Die Hausfrau backt Kuchen und den Eifeler Fladem und lädt die Frauen der Familien aus den umliegenden Häusern, die man als „Nachbarn“ wünscht, zum Nachmittagskaffee ein. Die Einladung ablehnen geht nicht! Männer sind ohnehin nicht gefragt. Die kommen erst später dazu, wenn man sich einig ist und der Kaffee von einem Schnaps abgelöst wird.

Die so „eingesetzte“ Nachbarschaft übernimmt die Gemeinschaftsaufgaben, für deren Erledigung es keine der in den Städten bestehenden Institutionen gibt. Ein Beispiel: Bei einem Sterbefall kommt die Nachbarschaft zusammen und legt fest, welche Nachbarn das Grab ausheben, den Sarg tragen, das Grab schließen und so weiter. Diese Einrichtung ist also nicht nur praktisch, sondern auch billig. Ja, und beim Dreschen des Getreides ist die Nachbarschaft ebenfalls gefragt.  Die Dreschmaschine ist, von einem Traktor von Hof zu Hof gezogen, den halben Winter über im Einsatz und das Dreschen ist für die Nachbarschaft eine willkommenen Unterbrechung in der tristen Jahreszeit. Denn es wird hierbei sowohl mittags als auch abends gemeinsam gegessen (und getrunken) und geklönt.

In einem eventuellen künftigen Krieg, den jetzt immer mehr Menschen für möglich halten, wird die Nachbarschaftshilfe im Hinblick auf die vielen Einberufungen von Ehemännern und tatkräftigen Söhnen zum Wehrdienst von großer Bedeutung sein.

Die kulturelle Seite des Dorflebens ist stark von den Festen des Kirchenjahres geprägt. Weihnachten beginnt für uns zunächst, also noch vor der Bescherung, mit der Mitternachtsmette, an die sich eine zweite Messe anschließt. Die Kirche ist zwar ungeheizt, aber überfüllt und somit trotz der winterlichen Witterung durch die Körperwärme halbwegs erträglich temperiert. Nach der zweiten Messe geht man durch den Schnee, der unter den Füßen knirscht, nach Hause und begrüßt auf dem Heimweg Nachbarn und Freunde, die ebenfalls in unsere Richtung gehen, mit „Fröhliche Weihnachten“. Wenn jetzt noch einige Sterne sichtbar werden, ist die Festtagsstimmung fast vollkommen. Wie heißt es doch in dem gelungensten aller Weihnachtsgedichte:

 

„Sterne hoch die Kreise schlingen;

aus des Schnees Einsamkeit

steigt's wie wunderbares Singen:

O du gnadenreiche Zeit!“

 

Ich möchte dieses feierliche Erleben nicht missen. Später einmal, wenn man im Wirtschaftswunderland gedankenlos und erstaunt bemerken wird: „Ach, die Kirche feiert ja auch Weihnachten“, werde ich diese von Geschäft zu Geschäft eilenden Menschen ob des kulturellen Verlustes, den sie unbewußt erlitten haben, zutiefst bedauern.

Das vorstehend erwähnte Weihnachtsgedicht möchte ich an dieser Stelle im vollen Wortlaut wiedergeben:

 

 

Weihnachten



Markt und Straßen stehn verlassen,

still erleuchtet jedes Haus;                

sinnend geh ich durch die Gassen,

alles sieht so festlich aus.

 

An den Fenstern haben Frauen

buntes Spielzeug fromm geschmückt,

tausend Kindlein stehn und schauen,

sind so wunderstill beglückt.

 

Und ich wandre aus den Mauern

bis hinaus ins freie Feld.

Hehres Glänzen, heil’ges Schauern,

wie so weit und still die Welt!

 

Sterne hoch die Kreise schlingen;                             

aus des Schnees Einsamkeit

steigt´s wie wunderbares Singen.-

O du gnadenreiche Zeit!                      Siehe auch: das Kapitel „Julklapp“

 



Zwischen Weihnachten und Neujahr finden alljährlich Laien-Theateraufführungen statt. 

 Wenn es sich um eine Tragödie handelt, was mitunter bei der laienhaften Darbietung nicht erkennbar ist, pflegt man über der Bühne ein Transparent aufzuhängen:„Wir bitten das Lachen zu unterlassen, da es ein Trauerspiel ist.“

 

           

 Ich übe das Freuen vor dem Spiegel       Ostern überwiegt das Eiersuchen. Dies findet aber nicht in der Dorfgemeinschaft, sondern im Familienkreis statt. Mein Patenonkel aus dem Nachbarort Mahlberg bringt mir am

Ostersonntag üblicherweise, obwohl wir selbst einen Stall voller Hühner haben, zu allem Überfluss Ostereier als Geschenk, schön bunt, aber nach meiner Meinung so unsinnig wie ein Glas Milch. Es gelingt mir trotz größter Anstrengung nie, beim Empfang dieses „Ostergeschenkes“ ein freudiges Gesicht zu machen. Meinem „Ohm Pättchen“ bleibt das naturgemäß nicht verborgen und so sagt er eines Tages zu meiner Mutter: „Ich komme Ostern gar nicht mehr gerne zu Deinem Sohn, weil der sich überhaupt nicht freut.“ Mutter verpflichtet mich, im darauf folgenden Jahr wenigstens etwas Freude zu zeigen. Und so beginne ich etwa eine Woche vor Ostern vor dem Spiegel das Freuen zu üben. Am Tag der Eierübergabe geht „das Freuen“ vollkommen in ein Griemassenschneiden über und somit in die Hose. Endlich fragt Onkel Pättchen: „Na Jung, wat soll ich Dir denn schenken?“ und ich antworte behende, wie aus der Pistole geschossen: „Geld für die Sparbüchse“. In den weiteren Jahren klappt das Freuen ohne vorheriges Üben vor dem Spiegel und mein Onkel kommt immer wieder gerne zu Besuch, solange, bis er den langen Weg wegen Altersbeschwerden nicht mehr schafft.

 

Die Tage vor Fronleichnam sind für mich voller Aktivität. In unserem Dorf wird die für den Weg der Prozession vorgesehene Straße am Morgen des Festes mit einem wahren Blumenteppich

 



Der Besenginster, Eifelgold genannt
Theateraufführung in Schönau mit Bruder (Wilfried Weber)

bedeckt. Es gibt im Dorf aber einige kinderlose Familien, für die ich liebend gerne für ein Taschengeld das Pflücken der Wiesenblumen und Abrupfen der gelben Ginsterblüten, auch Eifelgold genannt, besorge. Entlang der Häuser werden mannshohe grün belaubte Zweige befestigt und die frische Morgenluft ist beim Durchziehen der Prozession vom Duft der Blätter und Blüten erfüllt.

 



Ein Wiedersehen mit alten Bekannten: Die Dorfkirmes

Die Kirmes ist bewusst auf die Zeit nach der Ernte gelegt worden, weil die Landwirte dann das zum Feiern unverzichtbare Geld flüssig haben. Schon am Kirmessamstag bringt der vom Endbahnhof Münstereifel aus verkehrende Postbus die geladenen Gäste ins Dorf. Die meisten Gäste sind ehemalige Dorfkinder, die zur Entlastung der Großfamilien möglichst früh das Weite gesucht haben und nach der Stadt gezogen sind. Die wandern zum Spätnachmittag hin durch das Dorf und zeigen ihren Ehepartnern städtischer Herkunft milde lächelnd, wie unsereiner die Straße vor dem Haus mit dem Stallbesen kehrt, schön akkurat bis zur Straßenmitte. Ich bin also als Dorfjunge Schauobjekt und das sagt mir gar nicht zu. Abends wird die Kirmes von dem die Dorfstraße entlang marschierenden Tambourkorps, dem die für den Ball engagierte Musikkapelle folgt, eröffnet. Die Jugend, sofern sie altersmäßig zum Tanzabend zugelassen ist, marschiert Arm in Arm hinterher. Die älteren Jahrgänge folgen später nach dem gemeinsamen Abendessen mit den zu Besuch weilenden Verwandten. Für viele Einheimische und „Fremde“ ist das Treffen an der breiten Theke interessanter als das Tanzen. Hier können insbesondere die kleinen Aufschneider ihre Erlebnisse und beruflichen Erfolge in der Fremde zum Besten geben und bei den Daheimgebliebenen ehrfürchtiges Staunen hervorrufen. Aber bei manchen kommt auch ehrliche Freude über ein Wiedersehen nach langer Zeit der Trennung auf.

Mit den Jahren werden die Kirmesbälle in zwei Sälen gleichzeitig abgehalten. Das führt dazu, daß die jungen Pärchen in der Dunkelheit mit Vorliebe von einem Saal zum anderen wechseln, nach der Devise und mit dem Lied auf den Lippen:

Denn ab und zu da muss man mal spazieren gehen,

denn man muss ja auch mal nach den Sternen sehn.

Die auf Urlaub weilenden Soldaten erscheinen bevorzugt in ihrer Ausgehuniform, die allemal besser aussieht, als mancher zu eng gewordene Bratenrock.

Doch vorerst werden die Bälle in einem Festzelt abgehalten. (Siehe: „Dorfkirmes, aber richtig“)

Noch sind Kirchenchor und Gesangverein aktiv             


Eine mehr musische Form der Dorfgemeinschaft sind Gesangverein und Kirchenchor, die durchweg denselben Dirigenten und Leiter haben: Den Dorflehrer. Wenn später einmal die bestehenden Zwergschulen aufgelöst und die Schüler mit Bussen zur Stadt gefahren werden, wird auf den Dörfern wegen Wegfalls der Lehrerstelle und deren Nebenfunktion im Ort ein Stück Kultur für immer verloren gehen. Die Eingemeindungen und Bildungen von Großgemeinden werden ein Zusätzliches zu dieser Entwicklung beitragen. An die Stelle der kulturellen Einrichtungen werden die Sportverbände treten. Das wird dann eine andere Form der Dorfgemeinschaft sein, einer Dorfgemeinschaft, die die älteren Jahrgänge ausschließt. Letztere wird man kaum noch auf der in meiner Jugendzeit stets bevölkerten Dorfstraße zu sehen bekommen, weil sie sich in ihren Wohnungen verkriechen, um den Fernseher scharen und so den Kreis der Familie zum Halbkreis verkümmern lassen.



Die Freiwillige Feuerwehr in festlicher Uniform

Im Dorf unverzichtbar, die Freiwillige Feuerwehr    

Aber es gibt noch eine weitere, Gemeinschaft bildende Institution im Dorf; das ist die auch in Zukunft unverzichtbare Freiwillige Feuerwehr, der man als gesunder einsatzfähiger männlicher Heranwachsender angehören muss. Die sonntäglichen Übungen mit anschließendem Löschen (vornehmlich des Durstes) sind sogar sehr beliebt.

Auf Allerheiligen singt der Kirchenchor auf dem hinter der Kirche liegenden Friedhof, der deshalb „Kirchhof“ genannt wird, die  schwermütigen, unsere Toten  nochmals

in unsere Gemeinschaft einbeziehenden Lieder, wie:

Wie sie so sanft ruh'n,

alle die Seligen....

Dann folgt der St. Martins-Tag mit dem Fackelzug der Kinder und den großen Martinsfeuern auf den Bergen, die im weiten Rund der Eifelhöhen überall auflodern. Dann wird das Lied von dem Reitersmann Martin gesungen, der eine Hälfte seines warmen Mantels einem frierenden Bettler gibt. Die Partei versucht hin und wieder, diese Feier in ihrem Sinne umzufunktionieren. Aber ohne Erfolg. Sie versucht generell, die bisher gut funktionierende Dorfgemeinschaft in eine allumfassende „Volksgemeinschaft aller Deutschen“ im Sinne des „geliebten Führers“ umzuwandeln.



Eine Stätte reger Kommunikation im Dorf ist die Schmiede. 

Hier werden die Pferde und Ochsen im so genannten „Notstall“ beschlagen, die Eisenreifen auf die Holzräder der Leiterwagen, Pferdekarren und Pflüge aufgezogen, die Pflugscharen geschmiedet und die Werkzeuge für die Landwirtschaft hergestellt oder repariert. Da kommt man zusammen und kann bei dieser Gelegenheit die nicht über Zeitung oder Radio verbreiteten Dorfneuigkeiten aus frischer Quelle beziehen. So ist unser kleines Dorf im Tal der oberen Erft, umgeben von Bergen, eine kleine Welt für sich. Es fehlt, vom Stadtmenschen aus betrachtet, an manchem, nicht aber an gesunder Lebenseinstellung, hintergründigem Humor und der bewährten Dorfgemeinschaft.

 

Wir Kinder wachsen mit den Haustieren auf und verstehen es, unter ihnen einige als Freunde zu gewinnen und zu Gespielen zu  dressieren.

 

Das Schafböckchen „Fritzchen“ ist von mir  so dressiert worden, dass es aufs Wort folgt. Zum Beispiel stößt es auf mein Kommando unbeliebte Dorfkinder  in den Bach. Damit habe ich ungewollt seinen Verkauf  heraufbeschworen. Als eines morgens ein Radfahrer, der so etwas wie „dummes Schaf“ (sicherlich nicht ohne Grund) gebrüllt hatte, von Fritzchen von seinem Drahtesel gestoßen wird, ist mein Freund Hals über Kopf verschwunden. Meine Eltern machen bei Tisch betretene Gesichter und antworten auf meine Frage nach Fritzchens Verbleib, er sei einem Schäfer für kurze Zeit ausgeliehen worden. Als ich dann eines Spätnachmittags vom Feld komme, nehme ich einen Pfad als Abkürzung, der an einer mit einem festen Holzzaun gesicherten Weide vorbeiführt. Schon von Weitem höre ich ein klägliches Blöken und bald erkenne ich meinen Freund, der den Holzzaun auf- und abläuft. Ich steige zu ihm hinüber und nehme ihn wie den verlorenen Sohn in der Bibel  in beide Arme. Da kommt zufällig der Schäfer vorbei und erklärt mir, das Schafböckchen sei von ihm für immer erworben worden und ich möge die Weide unverzüglich verlassen. Es heiße auch nicht mehr Fritzchen, sondern es sei jetzt ein ganz gewöhnliches Schaf, das sich bald an eine Herde gewöhnen müsse. Dort werde ihm von den Hunden Benehmen beigebracht. Das ist zuviel! Meinen Eltern habe ich lange Zeit weder den Verkauf meines Freundes noch die Lüge verziehen.   



Unser Schafböckchen "Fritzchen"

Weitere Eigenarten des Dorflebens vor dem 2. Weltkrieg

Der nächste Arzt wohnt und praktiziert in Münstereifel, also fünf Kilometer entfernt. Wenn also medizinisch „Not am Mann“ ist, bestehen folgende Alternativen: Entweder man ruft den Arzt per Telefon (Ist er bereits auf seiner Besuchstour über die Dörfer und noch nicht in Schönau gewesen, wird an einer bestimmten Stelle ein Tuch aufgehängt. Der dort wohnende Bauer ist informiert und weist dem Arzt den Weg zum Kranken) oder man hilft sich selbst mit den Heilmitteln der Natur. Zu diesen haben die meisten Leute im Dorf mehr Vertrauen als zum approbierten Doktor.

 



Gemeine Wespe

Der Wespenüberfall,

ein Fall von vielen: Ich wandere eines Tages mit ein paar Freunden einen Waldpfad bergauf, bleibe an einer mich interessierenden Pflanze stehen und laufe dann den vorausgegangenen Jungen hinterher. Da sie mir aus den Augen geraten sind, habe ich nicht mitbekommen, dass sie um ein auf dem Pfad befindliches Wespennest einen großen Bogen machten. Dies nicht wissend, trete ich mit einem Fuß mitten in das Nest der nun wild gewordenen, meinen Kopf umschwärmenden Wespen. Trotz aller Anstrengungen gelingt es mir nicht zu verhindern, dass ich sage und schreibe 18 Stiche davontrage. Die Wirkung des Giftes in dieser lebensgefährlichen Menge lässt mich zusammensacken, so dass ich von meinen Kameraden nach Hause getragen werden  muss. Jeder ihrer Schritte ruft unsägliche Schmerze in meinem Kopf hervor. Wir kommen an einem Haus und der vor der Tür stehenden Bäuerin vorbei; diese sieht sofort was passiert ist und was als Erste Hilfe zu tun ist. Sie läuft ins Haus und kommt mit einigen rohen Zwiebeln und einem Kartoffelmesser zurück, schneidet die Zwiebeln mittendurch und drückt die jeweilige Schnittfläche auf die Einstichstellen. Beim Abheben der Zwiebelhälfte wird der Stachel mit herausgezogen. Das bringt zwar keine spürbare Linderung, lässt mich aber, sofern ich überhaupt noch denken kann, auf Besserung hoffen. Zu Hause angekommen, wird zunächst einmal, sicherlich aus Sorge, mit mir erbärmlicher Jammergestalt geschimpft, dann komme  ich ins Bett. Eltern und Tante beratschlagen, was zu unternehmen ist und entscheiden sich statt für den Arzt, doch schlussendlich für die von Generation zu Generation überlieferte Behandlung mit Dorfmedizin. Und so werde ich mit essigsaurer Tonerde über einen Zeitraum von drei Tagen hinweg halbwegs gesund gepflegt. Zudem wohnt ein Pillenkundiger direkt in unserer Nachbarschaft. Der lässt sich nicht davon abhalten, in echter Nachbarschaftshilfe einige seiner Pillen beizusteuern, die dank ihrer Placebo-Eigenschaft  zumindest keinen weiteren gesundheitlichen Schaden anrichten.

In der Natur finden wir ein weiteres Heilmittel: Das Johanniskraut, von uns Herrgottsblut genannt. Nach dem alten Volksglauben vertreibt es fast alle Krankheiten und darüber hinaus auch noch unheilvolle Gespenster, kurz, Ungemach jedweder Art. An letzteres glauben wir zwar nicht, füllen es aber mit Öl in Flaschen und verwenden dieses vom „Herrgottsblut“ veredelte und gut abgestandene Öl bei Verbrennungen der Haut.



Johanniskraut, auch Herrgottsblut genannt

„Ohm Plück“ und der penetrante Pfeifengeruch         Schafgarbe und Brombeerblätter werden von uns auf Anweisung des Schullehrers gesammelt. Wir werden aufgefordert, sie auf dem Speicher zu trocknen und gegen Winteranfang in diesem getrockneten Zustand als Tee in der Schule abzuliefern. Nun wohnt bei uns der in die Familie aufgenommene „Ohm Plück“, ein Witwer ohne Angehörige. Er hilft wo er kann und pflegt zudem das Rauchen von „starkem Tobak“. Dieser wird kurz vor Kriegsausbruch zur Mangelware. Abends nach getaner Arbeit sitzt unser Ohm in letzter Zeit recht still, Tabak rauchend (es ist meist selbst- geschnittener Strangtabak) in einer Ecke der geräumigen Wohnküche. Aber ich glaube mehr und mehr den Geruch einer brennenden Scheune in der Nase zu verspüren. Irgendwann wird der Geruch wieder  erträglicher.

 Zu Winteranfang gehe ich auf unseren Speicher, um die getrocknete Schafgarbe  zusammen mit den getrockneten Brombeerblättern vom Boden aufzusammeln und getrennt in Säcke zu füllen. Aber ich suche vergeblich. Da erinnere ich mich an die von meinem Vater immer wieder erzählte Geschichte von dem „Einrauchen“ neuer Tonpfeifen. Dies machte er im Auftrag der erwachsenen Pfeifenbesitzer für ein paar Groschen Entgelt. Da nun richtiger Tabak für ihn als Kind zu teuer war, benutzte er getrocknete Brombeerblätter. Das machte er so lange, bis ihm dabei kotzübel wurde. Und so wurde er schon als Heranwachsender für ein ganzes Leben vom Rauchen geheilt. Jetzt wird’s mir klar! Onkel Plück hat in den zurückliegenden Monaten meine gesamte Teesammlung durch die Pfeife geschickt. Sie hat sich im wahrsten Sinne des Wortes quasi vor meiner Nase in Rauch aufgelöst.

 



Schafgarbe

Was sonst noch so auf den Äckern und Wiesen wild wächst

Ackermohn
Kornblumen
Margeriten

Die Margeriten werden in meiner Heimat Johannisblumen genannt. Vor der Johannisnacht werden sie in ganzen Büscheln gepflückt, zu Kränzen gebunden und in dieser Form in der Dunkelheit auf die Dächer geworfen. Dies schützt die Dächer vor Blitzeinschlag. Glauben Sie das nicht?- Bei unserm  Haus mit den vielen Dächern von Wohnhaus, Stallungen und Scheunen hat es noch immer geholfen. Reifen Frucht und Obst heran, wächst die Furcht vor Hagelschäden. Also findet  noch rechtzeitig eine Bittprozession zum eigens hierfür errichteten Hagelkreuz statt.

Schuhnägel in Fahrradreifen

Opa geht, besonders in späteren Jahren, also während der Kriegszeit, fast täglich in den Wald zum Lohschälen, dem Schälen der Eichenrinde. Diese wird in den beiden Gerbereien in Münstereifel gegen Lappleder getauscht. Die Gerber brauchen die „Loh“ als Gerbstoff bei der Lederherstellung aus Tierhäuten. Das mit Eichenrinde gegerbte Leder ist strapazierfähiger als die mit anderen Gerbmitteln hergestellten Lederarten und wird daher weniger als Oberleder, sondern für die Sohlen verarbeitet. Im Winter zieht der Schuhmacher im Dorf von Haus zu Haus, repariert Schuhe oder fertigt neue für die Benutzung bei der Arbeit an. Da erhalten die kräftigen Sohlen noch Verstärkung durch Schuhnägel, die man später einmal nicht mehr kennen wird. Wir Kinder lieben die Schuhnägel, sind sie doch besonders zum „Schlagen“ von Eisbahnen geeignet. Radfahrer haben öfters das Vergnügen, aus einem platten Reifen den schuldigen Schuhnagel fluchend zu entfernen und den Reifen zu flicken.



Unser Opa            

Kommen wir zum Opa zurück. Eines Tages kommt ein junger Mann aus unserem Dorf an einer unserer Waldparzellen vorbei und trifft dort auf Opa, der vergeblich versucht, sein Taschentuch um ein Handgelenk mit aufgeklebtem Eichenblatt zu binden. „Paul, kannst Du mir mal eben helfen?“ fragt er ruhig und gelassen. Paul nimmt das Taschentuch nochmals vom Handgelenk ab, als ein dicker Strahl Blut aus der Ader spritzt. „Mein Gott“, denkt er, „das geht schief bei einem Mann im hohen Alter.“ Aber Opa erklärt ruhig, das frische Eichenblatt werde das Blut stillen. Und so geschieht es auch. Eichensaft hat eine phantastische Heilwirkung. Wenn ich schon mal beim Schälen der Eichenrinde helfen muss, bleiben bei meiner „Geschicklichkeit“ stärkere Schrammen an den Händen nicht aus. Aber die Wunden heilen unverzüglich, weil sie mit dem Eichensaft in Berührung kommen. Diese Erfahrung macht man sich im Dorf bei manchen Gelegenheiten zu nutze.

Bei dieser der Natur zu verdankenden Gesundheit sollte ich mich jetzt, vor Gesundheit strotzend, schleunigst einem ähnlichen Thema widmen!

 



Stieleiche

Die Raupenplage im Eichenwald

 

Opa ist in letzter Zeit tagsüber, also auch zur Mittagszeit, fast nur noch im Wald anzutreffen, den er meist erst kurz vor Sonnenuntergang wieder verlässt. Was ihn jetzt so treibt, ist das Schälen der Eichenrinde, auch Lohschälen genannt. Es ist Frühjahr und der Saft der Eichenbäume ist nach der langen Winterzeit wieder die Stämme hinaufgestiegen und hat sich in Ästen und Zweigen neues Leben spendend verteilt. So lässt sich die Rinde mit Hilfe eines Lohmessers dank des Saftes auch wieder gut vom Holz der Stämme und großen Äste ablösen. Aber just in dieser Zeit tut sich im Eichenwald einiges: Gefräßige Raupen stillen derzeit ihren Hunger an den eifeler Eichenblättern. Der fressgierigste Bursche unter den Raupen ist der Kleine Frostspanner. Woher hat der bloß seinen Namen? Nehmen wir zunächst, unter Ignorieren des Begriffs Klein, den vorderen Namensteil des Frostspanners unter die Lupe. Was den Städtern kaum bekannt sein dürfte: Es gibt sie, die Falter der Frostnacht. Denn zur Zeit der ersten Nachtfröste im Spätherbst beginnt der Schlupf der Falter, die man noch bis in den Dezember hinein beobachten kann. Manchmal kann man sie in riesigen Schwärmen zu Abertausenden im Schein einer Fahrradlampe oder von Autoscheinwerfern beobachten. Ich habe sie einmal zu später Nachtstunde beobachtet und ich glaubte, eine gewaltige Schneeflockenherde werde, vor meinen Augen vom Wind getrieben, den angrenzenden Eichenwald regelrecht überfluten. Es sind lauter Männchen. Die flugunfähigen Weibchen krabbeln an Bäumen, Pfählen oder Wänden hinauf und erwarten dort ihre Begattung durch die nachtaktiven männlichen Falter und legen dann etwa 100 bis 200 Eier pro Tier in Löcher oder Ritzen von (z.B.)Baumrinden. Nachdem sie dort überwintern schlüpfen im Frühling die kleinen Raupen, die, wer kann es ihnen nach dem langen Winter verdenken, sofort mit dem Fressen beginnen. Nun beginnt das große Fressen von unzähligen kleinen Räupchen, das man sogar hören kann.

Nun zum zweiten Teil des Namens Frostspanner:

Da die unbehaarten Raupen nur eine reduzierte Anzahl von Bauchfüßen haben, müssen sie sich durch Spannerbewegung, also ein Hochbuckeln oder Katzenbuckeln und anschließendes Strecken fortbewegen. Es gelingt diesen  gefräßigen Tieren dank ihrer Vielzahl, ganze Eichenwälder kahl zu fressen, sie also ihrer schönen Blätter zu berauben. Zur Beruhigung sei jedoch erwähnt, dass die gesunden Bäume nach diesem Raupenbefall Anfang bis Mitte Juni wieder  austreiben und sich ein neues, zunächst hellgrünes  Blätterkleid zulegen. Nun zurück zu unserem Opa, der da mitten im Wald zwischen diesem Gekrabbel nackter Raupen sitzt und Waldarbeit verrichtet. Er hat mittlerweile Hunger und wird von mir mit einem Korb Butterbrote und Kaffee versorgt. Da die Raupen an dünnen Fäden durch die Luft von Baum zu Baum schweben, knöpfe ich mein Hemd bis zum Hals fest zu. Das verhindert zwar nicht ein Gekrabbel in meinen Haaren, wohl aber unter dem Hemd auf Brust und Rücken. Opa scheint das alles nicht zu stören. Er setzt sich auf einen Baumstamm, packt die Butterbrote aus, schüttet sich einen Becher Kaffee ein und beginnt genüsslich zu speisen. Derweil verfangen sich die Frostspannerraupen in seinem Kaiser-Wilhelm-Bart, schwimmen im Kaffeebecher hin und her und sitzen katzbuckelnd auf seiner Kappe. Mir aber wird es kotzübel. Nach Gottes unerforschlichem Ratschluss haben Menschen, die, wie mein Opa, selbst Räupchen mit einem Schluck Kaffee ungeniert hinunterschlucken, eine höhere Lebenserwartung als solche, die das Essen auf ihrem Teller so lange hin und hersortieren, bis es kalt und ungenießbar geworden ist. Sobald Opa gesättigt ist, schnappe ich mir Korb und Kaffeekanne und verlasse den Wald gebückt, bis oben zugeknöpft und mit Riesenschritten.

 



Raupe des Kleinen Frostspanners
Kleiner Frostspanner

Der Diebstahl            

Ja, ich berichtete vorhin im Zusammenhang mit meiner Wespenstichmisere von unserem pillenkundigen Nachbarn. Dieser wird nach dem Motto: Nicht verzagen, Alois fragen!“ für die Lösung der unterschiedlichsten Probleme im Dorf herangezogen. Eines Nachts ist in der Gemischtwarenhandlung des Oberdorfes eingebrochen und der Inhalt der Tageskasse gestohlen worden. Alois kommt mit seiner Schubkarre angefahren und bietet sich, keine Widerrede duldend, an, den Dieb zu fassen. Er inszeniert, für jedermann sichtbar und nachdem er möglichst viele Nachbarn hinzugezogen hat, draußen vor dem Geschäftseingang folgendes Schauspiel:  Die Schubkarre wird herumgedreht, so daß die Ladefläche auf die Erde zu liegen kommt und das Rad frei nach oben zeigt. Nun  beginnt er das Karrenrad mit der rechten Hand zu drehen, erst langsam, dann immer schneller werdend. Mit der linken Hand hält er ein Sprüchebuch in Augenhöhe, aus dem er die den Dieb beschwörenden Sätze laut, ernst und feierlich vorliest. Dann erklärt er zwischendurch mehrmals, der Dieb komme jetzt, der Drehgeschwindigkeit des Karrenrades angepaßt, gelaufen, um das Geld zurückzugeben. Das Geschehen vor dem Kaufladen wird von den Nachbarn in Windeseile weitererzählt und erreicht, von Haus zu Haus oder besser gesagt von Mund zu Mund weitergetragen, auch den letzten Dorfbewohner am anderen Ende des Dorfes, und so auch die Ohren des Diebes, in kürzester Zeit. Mittlerweile ist fast das ganze Dorf  in der Nähe der Schubkarre versammelt. Nach etwa einer Stunde beschwört Alois alle Anwesenden, unverzüglich nach Hause zu gehen und keinen Vorwitz walten zu lassen. Der Verkaufsladen wird jedoch nach einer weiteren Stunde wieder geöffnet.  Noch vor Anbruch der Nacht ist das gestohlene Geld wieder im Besitz des rechtmäßigen Eigentümers. Letzterer hat sein Versprechen gehalten, den Namen des reuigen Sünders niemandem zu nennen.

Das Erinnerungsvermögen der Allgemeinheit ist von kurzer Dauer. Bereits nach ein paar Tagen sind Interesse und Aufregung über Diebstahl und Geldrückgabe vergessen. In unserem Dorf hat man diese Ereignisse einfach so akzeptiert, wie sie gelaufen sind. Alois hat eine seiner stets erfolgreichen Methoden angewandt und den Dieb mit Hilfe eines von Hand gedrehten Karrenrades herangeholt. Nicht mehr und nicht weniger! In meinem Alter ist die Welt noch voller Wunder und so könnte auch ich die wundersame Geschichte auf sich beruhen lassen  Aber wenn ich abends nach getaner Arbeit darüber nachdenke, schleicht sich nach und nach in mein Grübeln die Vermutung ein, nicht das Karrenrad habe den Dieb zur Reue geführt, sondern die jeder Zeremonie innewohnende Kraft zur Gemeinschaftsbildung. Der „Bösewicht“ fühlt sich in fast unerträglicher Weise ausgeschlossen. Er fürchtet, sich irgendwann „dummerweise“ zu verraten, wenn er seine Tat nicht unverzüglich rückgängig macht. Also macht er reinen Tisch.



Das unerklärliche Verhalten der Stubenfliegen

Bei manchen nicht zu verhindernden Kinderkrankheiten wird Alois mit seinen Pillen ebenfalls um Hilfe nachgesucht. Das Verabreichen seiner Wundermedizin verbindet er dann stets mit der widerspruchslos hinzunehmenden Anordnung, schleunigst das Bett zu hüten. Besonders in den Sommermonaten hat man dann, zur Untätigkeit verurteilt, genügend Muße, dem ununterbrochenen Tanzen und Kreisen der Stubenfliegen um die über dem Bett hängende Deckenlampe zuzusehen. Was für ein nutzloser Aufwand an Energie! Warum, so versuche ich zu ergründen, verhalten  sich die Stubenfliegen so?

 

Fische, zum Beispiel, verhalten sich lichtorientiert. Beleuchtet man ein Aquarium von unten, so drehen sie sich herum und schwimmen auf dem Rücken. So jedenfalls habe ich es einem Realienbuch entnommen. Aber ich habe noch nie etwas über das Flugverhalten dieser Fliegen gelesen. Wohl kann man aus den Lexika erfahren, die Stubenfliege sei ein lästiges, als Krankheitsüberträger gefährliches Insekt, dessen Weibchen jährlich bis zu 2000 Eier an zerfallenden organischen Substanzen ablegt, wo sich auch die Larven entwickeln. Aha, so sinniere ich, wenn die Fliegenweibchen derart fleißig beschäftigt und mit Arbeit überlastet sind, tanzen hier oben um die Lampe über meinem Kopf wohl nur die Fliegenmännchen, so wie die Junggesellen des Dorfes im Frühjahr um den Maibaum im Kreis herum tanzen. Und ich kenne es auch von den Stechmücken: Die Weibchen stechen und die Männchen tanzen (meist am Vorabend von Schönwettertagen). Aber die Antwort, die ich mir bei meinem halbfiebrigen Grübeln selbst gebe, befriedigt doch nicht meine Neugier. Und so frage ich jedes ins Zimmer eintretende Familienmitglied, warum  die Fliegen um die Lampe kreisen. Vergebens! Niemand weiß es. In Zimmern ohne Deckenlampe durchqueren die Stubenfliegen den Raum gezielt von einer Wand zur gegenüberliegenden. Wird aber eine Deckenlampe aufgehängt, umkreisen sie diese, wie auf eine höhere Anordnung, so als ob sie zum Tanzen geboren wären. Es genügt, dass die Lampe dort hängt, egal ob sie brennt oder nicht.

Dieses „warum“ brennt mir auf den Nägeln und lässt mich rasch gesund werden, damit ich eventuell außerhalb unseres Hauses eine befriedigendere Antwort bekomme. Und so hat das Tanzen der Fliegen wahrscheinlich mehr zu meiner schnellen Gesundung beigetragen als die Wunderpillen unseres Nachbarn Alois.

Aber eine stichhaltige Erklärung über das Umkreisen der Deckenlampe durch die Stubenfliegen habe ich auch außerhalb meines Vaterhauses nicht erhalten. Ja, ja, die Welt ist voller Rätsel.

 

Wie mir mein Opa erzählt, gibt es die elektrischen Lampen erst seit einigen Jahrzehnten. Vorher wurden die Wohnstuben und Küchen spärlich mit Petroleumlampen beleuchtet. Diese standen auf Tischen oder hingen an der Wand; als Deckenleuchten waren sie zumindest in meinem Heimatort unbekannt. Das bedeutet, daß das Verhalten der Stubenfliegen nicht auf einer Jahrhunderte alten evolutionären Entwicklung beruht. Sie müssen es also erst kürzlich von anderen Objekten her auf die Deckenlampe übertragen haben.

 

 

 



Die Kleine Fliege, hier übertrieben groß dargestellt

Sommerliche Fliegenplage

Ende des 20. Jahrhunderts wird die Anzahl der bäuerlichen Betriebe stark geschrumpft sein. Mit ihnen reduzieren sich dann auch die in den Stallungen neben den Wohngebäuden untergebrachten Viehbestände als Hauptanziehung für die sommerlichen Fliegenschwärme. Und den restlichen fliegenden Plagegeistern wird dann langsam aufgegangen sein, daß der Tanz unter der Zimmerdecke weniger einbringt, als das Umschwärmen der Köpfe der auf den Koppeln außerhalb des Dorfes massenweise weidenden Reitpferde, die als äußeres Zeichen eines gewissen Wohlstandes gelten, eines Wohlstandes, der heute, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, noch an der Größe des vor oder hinter dem Stall aufgestapelten Misthaufens abzulesen ist. So werden sich die Zeiten ändern. Ja, der Misthaufen! Die in der Küche auf den Lebensmitteln herumstolzierenden Fliegen kommen ja nicht nur aus dem Viehstall, sondern auch vom nahe gelegenen Misthaufen. Und in meiner regen jugendlichen Phantasie glaube ich zu erkennen, dass sie vom Misthaufen braune Beine mitgebracht haben. Guten Appetit! Wer wird sich später noch an die Myriaden von Fliegen und Bremsen erinnern, die heutzutage jährlich zur Sommerzeit unser Dorf heimsuchen und sich bei noch so kurzzeitigem Öffnen der Tür oder eines Fensters in die Wohnzimmer und Küchen drängen, uns Menschen belästigen, auf den Lebensmitteln sitzen und die Deckenlampen umschwirren? Neben letzteren baumeln die Fliegenfänger von den Zimmerdecken herunter und auf ihren klebrigen Oberflächen sterben die haften gebliebenen armen Fliegen einen langsamen, qualvollen Tod, ohne daß sich die Gesamtzahl der eingedrungenen und ständig nachdrängenden Plagegeister nennenswert verringert. Die toten und die noch nicht verstorbenen Fliegen werden mit dem klebrigen Fliegenfänger ins Feuer des dauernd unter Glut gehaltenen Herdes geworfen, ohne ihnen die Chance zu geben, vorher ihre Sünden und Verfehlungen zu bereuen Aber wie gesagt, Ende dieses Jahrhunderts werden die Fliegen bei uns keine hausnahen Viehbestände mehr vorfinden und deshalb den Reitpferden in einiger Entfernung vom Dorf Gesellschaft leisten. Dort draußen auf den abgelegenen Weiden mögen sich die Fliegen dann an den feuchten Nüstern der Pferde austoben, aber zur Dorfgemeinschaft werden sie (Gott sei Dank) nicht mehr gehören. Ein Gespräch über Tierdressuren In jungen Jahren pflegt man oft recht skurrile Gedanken. So habe ich mehrfach darüber nachgedacht, dass wir uns die Haustiere gefügig machen und als Nutztiere einspannen können. Ja, es ist mir persönlich sogar ohne weiteres gelungen, das Schafböckchen „Fritzchen“ zu dressieren. Und die Schäfer- und Hofhunde sind ja auch ganz schön dressiert. Und da kommt mein Schulfreund daher und fragt: „Warum kann man eigentlich keine Fliegen dressieren?“ „Aber das ist doch eine lächerliche Frage! Denk doch nur mal an die Massen von Fliegen. Du kannst sie noch nicht einmal einfangen.“ Aber er läßt nicht locker: „Es geht mir doch nicht darum, der Fliegenplage durch Dressuren Herr zu werden. Ich will einfach wissen, warum man das Vieh, die Hunde und auch einige Vögel dressieren kann, die Fliegen oder eine einzelne Fliege aber nicht.“ „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“ „Dann denk doch einmal darüber nach! Oder nimm statt der Fliege mal einen Wurm.“ „Ich kann ja auch keine Eintagsfliegen dressieren. Es würde sich für deren kurzes Leben auch nicht einmal lohnen. Also du musst doch langsam einsehen, dass deine Frage Blödsinn ist. Eintagsfliegen dressieren! Hahaha.“ „Gut! Aber es ist doch nicht uninteressant, der Frage nachzugehen.“ Nun fange ich, in die Enge getrieben. langsam an, ernsthaft nachzudenken: „Vielleicht muss ein Tier, das man dressieren will, eine gewisse Portion Grips im Kopf haben, jedenfalls mehr als eine Fliege, eine Mücke oder ein Wurm.“ Mein Freund bleibt hartnäckig: „Woran kann ich erkennen, ob ein Tier genug Grips im Kopf hat?“ „Ja, wenn ich die Nutztiere bei uns in der Landwirtschaft betrachte und mit Würmern, Fliegen. Schnecken und Mücken vergleiche, dann glaube ich einfach, dass ein Tier mit Grips im Kopf auch einen größeren und schöneren Körper hat. Wie sagt man dazu? Es ist auch äußerlich einfach vollkommener.“ „Also, größer muss er nicht unbedingt sein; denn ein Wellensittich zum Beispiel ist doch recht klein und niedlich.“ „Das stimmt, aber er lässt sich auch weniger dressieren, als zum Beispiel ein Pferd. Und schlau ist er bestimmt nicht.“ „Aber er hat Grips! Mein Vetter, der einen Wellensittich hat, erzählte mir neulich, der Vogel habe einmal regelrecht gelacht, als er, der Vetter, nackt aus der Badewanne gestiegen sei. So: Hihihi.“ „Das muss aber ein Wundervogel sein. Vielleicht hat er angenommen, dein Vetter sei in die Mauser geraten. In der Mauser verlieren die Vögel ihre Federn.“ „So ein Quatsch, ein Mensch in der Mauser! Unsere Unterhaltung bringt nichts. Laßt uns nach Hause gehen.“

Ein Biest: Die Stechfliege

Diese armen Zugtiere in der Landwirtschaft

Diese mit etwas Humor vorgetragene „Fliegengeschichte“ möge verdeutlichen, dass die gute alte Zeit bei genauerem Hinsehen weniger rosig erscheint. Das wird besonders dem wirklichen Tierliebhaber eines Tages deutlich vor Augen geführt werden, wenn er über die Ablösung der jetzt, in meiner Jugend, so arg geschundenen Zugtiere durch die Traktoren nachdenkt. Wie blutet mir mein junges Herz, wenn ich sehe, wie von den ärmeren Landwirten selbst die nur zur Milchproduktion geeigneten Kühe vor die schweren Wagen gespannt und mit Peitschenhieben und Fuhrmannsgebrüll wie Zugochsen behandelt werden. Nicht die Eignung sondern die permanente Angst lässt sie in die Sielen springen. Und das Ziehen der schwer beladenen Fuhrwerke, abgemagert und mit schlackerndem leeren Euter (es gibt ja keine Büstenhalter für die armen Tiere) gleicht einer dauernden Flucht vor der Prügelstrafe. Kein Mensch fragt sie danach, ob sie diese Gleichberechtigung gegenüber den Ochsen überhaupt wollen! Also: Wer die Tiere wirklich liebt oder zumindest Mitleid mit der geschundenen Kreatur empfindet, muss eine Besserung ihres Schicksals durch Fortschritt und Modernisierung wollen. Und es ist zu hoffen, dass man eines Tages auch ohne die Kinderarbeit in der Landwirtschaft auskommt.

Arme Kühe!

Winter im Dorf

Das Vieh steht im Stall und wird weder von Fliegen belästigt, noch für das Ziehen der landwirtschaftlichen Wagen und Geräte angeschirrt. Gequält werden sie erst wieder mit dem Beginn der Frühjahrsarbeit.

Wir Kinder sind jetzt von der Feldarbeit befreit und haben viel Zeit, sowohl für Rodeln, Schlittschuhlaufen und Skifahren, als auch für Bücherlesen, Malen und Basteln in der warmen Stube.

Die Erwachsenen helfen sich gegenseitig beim Dreschen des Getreides mit der von einem Traktor von Hof zu Hof gezogenen und auch von ihm angetriebenen Dreschmaschine und praktizieren so die allseits beliebte  winterliche Dorfgemeinschaft.

 



Die obere Erft in Schönau ist fast ganz zugefroren. Die Natur liegt im tiefen Winterschlaf
Arbeit an der Dreschmaschine

Die Bäuerin reicht die Garben mit einer Gabel an, der Bauer auf der Dreschmaschine schneidet mit einem Messer das aus Strohhalmen statt aus Kordel  bestehende Band auf und „füttert“ die losen Halme in die Maschine.



Kraft durch Freude      

Die Nationalsozialisten beherrschen eines: Das Gewinnen der Massen mit laufenden Festen, politischen Veranstaltungen und dem Ferienwerk „Kraft durch Freude“, kurz KDF genannt. Sommer für Sommer kommen jetzt die sogenannten KDF-ler als Feriengäste aus den Industriezentren des Ruhrgebietes und des Aachener Raumes in unser Dorf. Die meisten von ihnen hatten in ihrem bisherigen Leben noch nie die finanziellen Mittel und auch nicht die freie Zeit für einen Jahresurlaub besessen. Sie verleben dann diese drei Wochen bei uns mit wirklicher, Kraft spendender Freude. Mit Vorliebe genießen sie das typische Landleben, zum Beispiel die Fahrten mit Ochsengespann und Leiterwagen. So fahren sie auch mit uns aufs Feld, allerdings nicht als Erntehilfe, sondern als interessierte Beobachter unserer Aktivitäten. Dann setzen sie sich auf die Getreidegarben, singen zu den Klängen eines Akkordeons und lassen auf diese Weise auch uns teilhaben an ihrer Fröhlichkeit.


Als wir wieder einmal ein Getreidefeld erreichen, um mit unserer Arbeit, dem Mähen des Getreides und Binden der Garben zu beginnen, ruft mein jüngerer Bruder: „Papa luhr ens, Kraft durch Freude lit ad do!“ (Papa guck mal, Kraft durch Freude liegt schon da). Kindermund, natürlich! Aber man sieht, Kinder beobachten genau und bringen das Beobachtete auf den Punkt.

    



Eine "Fuhre" KdF (Kraft durch Freude) setzt sich in Bewegung

Vater freut sich über die KdF- Gäste, als eine willkommene Abwechslung vom Einerlei des Dorflebens. So nimmt er sich mindestens einen ganzen Tag frei von der Feld- und Büroarbeit und zeigt den Stadtbewohnern den Reichtum unserer Wälder: Rotwild und Hasen. Er kennt ziemlich genau die Waldwiesen, die in der Dämmerung vom Rotwild zum Äsen aufgesucht werden. Die Wildschweine, auch Schwarzkittel genannt, sind zwar auch zahlreich vertreten, bekommt man aber nur selten zu Gesicht. Das ist bei der lauten Fröhlichkeit unserer Gäste auch nicht verwunderlich.

Habt Ihr meinen Fehler bemerkt? - Hasen gehören nicht zu den Waldtieren, obwohl sie sich auch in lichten Wäldern verstecken. Sie bewegen sich aber vorwiegend auf Wiesen und Feldern und haben noch nicht einmal Schutzhöhlen wie die Kaninchen. Dafür verstecken sie sich in so genannten Mulden oder Sassen, wo sie sich bei Gefahr flach niederducken und (scheinbar) mit offenen Augen schlafen.

Im Jahr 1939 werden unsere lieben und fröhlichen Sommergäste ausbleiben, weil die Quartiere in unserem Dorf bereits wohlweislich für die Soldaten des kommenden Krieges freigehalten werden.



Flüchtender Hase

„Vater, nicht die Geiß marschieren lassen!“

Ich erzählte vorhin, wie mein drei Jahre jüngerer Bruder die KdF- Gäste beobachtet und den kindgerechten Ausspruch tat: „Kraft durch Freude liegt schon da“. Apropos Kindermund. Wenn „der Führer“ eine seiner markanten Reden gehalten hatte, wurden im Anschluss hieran hintereinander das Deutschlandlied und das Horst-Wessel- Lied „Die Fahne hoch.....“ gespielt und gesungen. Im letztgenannten Lied heißt es u.a.: „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unsern Reihen mit...“.  Und genau an dieser Stelle des Liedes beginnt mein Bruder jedes Mal bitterlich zu weinen und zu betteln an: „Vatte, net de Geiß marschiere losse!“ Dabei laufen ihm dann die Tränen über beide Wangen. Aber die drei Jahre Altersunterschied lassen bei mir bereits andere Reaktionen aufkommen. „Warum wird der Beifall während der Führerrede noch durch Paukenwirbel unterstützt?“ „Damit er weit nach draußen dringt und auch bei den ausländischen Regierungen gehört wird“, sagt Vater.

Ich stelle mir, nachdem ich die markante Sprache des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler mit leichtem Frösteln vernommen und teils auch, ehrlich gesagt, genossen habe, vor, dieselben Sätze seien von einem Friesländer mit leicht norddeutschem Tonfall oder im Aachener Singsang gesprochen worden. Nein, nein: Ein wirklicher Führer muss seine Drohrede im besten österreichischen  Geknarre halten.

Ein Witz macht die Runde: Österreich hat Deutschland einen Mann geschenkt, der die ganze Welt in Schwung gebracht hat: - Johann Strauß.

Radio Luxemburg

Radio Luxemburg kann ich auf Langewelle empfangen. Also schalte ich zu diesem Sender um und höre, was man zu der soeben zu Ende gegangenen Hitlerrede zu sagen hat. Da bin ich aber erstaunt! Bei diesem Sender scheint man über das Gesagte über alle Maßen erbost zu sein. Ich höre Ausdrücke. wie „der Bluthund vom Obersalzberg“ (auf den Obersalzberg bei Berchtesgaden zieht sich Hitler hin und wieder zum „stillen Nachdenken“ zurück) oder „Hitlers Polterrede“. Und den Paukenwirbel beim Applaus hat man auch nicht überhört, sondern höchst skeptisch zur Kenntnis genommen.

Aber über die marschierende Geiß höre ich keine abfällige Bemerkung

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Die Sendermaste von Radio Luxemburg stehen in Junglinster, einem kleinen Ort, der näher zu Deutschland liegt als die Stadt Luxemburg mit ihrem Senderbetrieb. In der Schule wird immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser Sender Lügen verbreiten würde. Den Erwachsenen wird eingeredet, das Abhören dieser Auslandssender sei geistige Selbstverstümmelung. Mit solchen Ausdrücken können wir Schulkinder noch nichts anfangen.

Jetzt hat man die Sendermaste in Junglinster massiv verstärkt, wie der Westdeutsche Beobachter warnend berichtet. Ob damit die Selbstverstümmelungsgefahr anwächst, weiß ich nicht. Aber ich stelle persönlich fest, dass ich den Sender mittlerweile viel sauberer, also ohne das verräterische Quietschen, empfangen kann. Meine Lust aufs Abhören wird noch durch schöne Musiksendungen, die den Nachrichten vorausgehen, verstärkt. Jetzt ertönt ein Marschlied:

„Schwarzbraun ist die Haselnuss,

schwarzbraun bin auch ich.

Schwarzbraun muss mein Mädel sein,

gerade so wie ich.“

Ein Marschlied, das auch in der Deutschen Wehrmacht beim Marschieren gesungen wird. Ob in Luxemburg, Frankreich  und Belgien auch so viel marschiert wird, wie bei uns? Wir marschieren im Deutschen Jungvolk, in der Hitlerjugend oder dem BDM (Bund deutscher Mädel), dem Reichsarbeitsdienst, in SA und SS, im NSKK und NSFK (Nationalsozialistisches Kraftfahrer- und Fliegerkorps), in der Wehrmacht und in der DAF (Deutschen Arbeitsfront). Das normale Gehen und Schlendern haben wir gründlich verlernt. Und immer wird dabei gesungen! Das ist ja, so betrachtet, eine scheinbar lustige Zeit.

Aber in den Liedern, die wir lernen müssen, wird nicht nur marschiert, sondern auch geritten. Das sind wohl Lieder, die im deutschen Kaiserreich gesungen wurden, als das Heer auch viele Berittene hatte, deren Einheiten sich Kürassiere, Dragoner oder Ulanen (Lanzenreiter) nannten.

 

Wir traben in die Weite,                            Auf grünem Wiesenplane,

Das Fähnlein weht im Wind,                       Freund Hein malt Blumen rot;

Vieltausend mir zur Seite,                          Und über uns die Fahne,

Die ausgezogen sind,                             Sie rauschet Blut und Tod!

Ins Feindesland zu reiten,                           Da geht ein brausend Rufen

Hurra! Viktoria!                                          Durchs Land, Viktoria!

Fürs Vaterland zu streiten,                           Ein Schlag von tausend Hufen,

Hurra! Viktoria!                                          Hurra! Viktoria!


Ich geniere mich ein wenig, dieses Lied zu singen, wonach Tausende ausgezogen, also nackt, auf ihren Pferden sitzen. Pfui! Und dann dieses dauernde sterben müssen!

 



Dorfkirmes, aber richtig

„Na, wie war’s denn auf der Kirmes in Mutscheid in der Eifel?“

„In diesem Jahr war nicht viel los. Es gab noch nicht einmal eine richtige Schlägerei.“

 

Dieses Gespräch führten meine städtischen Verwandten mit ihrem aus der Eifel stammenden Dienstmädchen. Es ist die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Noch hat die Motorisierung, von einigen Motorrädern abgesehen, die Eifeldörfer nicht erfaßt. Bekanntschaften mit dem andern Geschlecht vollziehen sich also meist innerhalb der Ortsgrenzen, wenn’s hochkommt aber innerhalb der zu einer Pfarrei gehörenden kleinen Dörfer. Es gibt dann einige ganz wenige Ausnahmen.

Zum einen dient die Michelsoktav, die Oktoberwoche der zu Ehren des Heiligen Erzengel Michael stattfindenden Feiern auf dem unsere Gegend überragenden Michelsberg, unter anderem dem Sichkennenlernen von Jungen und Mädchen aus entfernteren Ortschaften. Und wenn sich diese ersten Bekanntschaften unter der Schutzherrschaft dieses starken und heldenhaften Heiligen vollziehen, müssen sie ja zu guten lebenslangen Ehen führen. Es sei denn, der Leibhaftige hat seine Hand im Spiel!

Mein Vater geht mit mir eines Sonntags während der Michelsoktav auf den Turm der die Baumwipfel überragenden Michelskapelle. Von hier aus hat man einen weiten Blick über Berge, Täler, Felder und Wälder. Und man sieht und hört das Herannahen der Prozessionen. Eine von ihnen kommt von den hinter dem Wald liegenden kleinen Dörfern. „Es sind die Dörchbösche“, sagt mein Vater. (Dörchbösche heißt soviel wie „Durch den Wald oder Busch“, was beileibe nicht mit Hinterwäldler gleichzusetzen ist.) Die Prozessionen pflegen während ihres Anmarsches zum Michelsberg ein Wechselgebet zwischen den männlichen und weiblichen Prozessions- oder Wallfahrtsteilnehmern. Mein zu ernsthaft vorgetragenem stillem Humor neigender Vater behauptet nun steif und fest, beim Näherkommen der „Dörchbösche“ mit abnehmender Entfernung immer deutlicher folgendes Wechselgebet gehört zu haben:

Die Männer: „Heiliger Erzengel Michael mit demm Schwert,

hau de Düwel an de Erd.“

Die Frauen: „Un setz em su stärk  zu Liev (Leib),

dat net Stupp noch Stetz (Schwanz) dran bliev.“

Ich spitze vergebens meine Ohren, denn ich höre alles andere, nur nicht dasselbe wie mein Vater.

Kehren wir zum eigentlichen Thema zurück.

Zum anderen ziehen die in den Junggesellenvereinen zusammengeschlossenen, noch unentschlossenen Heiratskandidaten, den ganzen Sommer über an den Sonntagen zu den „Stiftungsfesten“ der gleichgesinnten Vereine anderer Gemeinden.

 

Schlägerei       


Und dann gibt es noch einige ganz wenige Einzelkämpfer, die mit Motorrad oder, was wahrscheinlicher ist, mit Fahrrad zu den Kirmesveranstaltungen im weiteren Umkreis ihres Heimatdorfes fahren oder radeln und dort wie fremde unerwünschte Hähne für Unruhe, Feindschaft und Aufruhr sorgen. Haben sie keine Chancen bei den Dorfschönen, läßt man sie ungeschoren. Andernfalls führt ihre Aktivität auf dem fremden Tanzboden in der beschriebenen Reihenfolge schrittweise zu der von Sensationslüsternen herbeigesehnten anständigen Schlägerei.

Vaters älterer Bruder muss in seiner Jugend auf der jährlich im Herbst stattfindenden Schönauer Kirmes ein Meister dieses Fachs gewesen sein. Vater schildert das so: Mangels Tanzsaal finden die Bälle in einem Festzelt statt. Vaters Bruder, nennen wir ihn Hitzkopf, steht schon von Beginn an abwechselnd an der Theke oder am Eingang, um entweder Mut zu tanken oder nach unerwünschten „Fremden Hähnen“ Ausschau zu halten. Dieses Hin und Her ist so anstrengend, dass sich diese körperliche und seelische Belastung im Verlaufe des Abends immer mehr im Gesicht von Onkel Hitzkopf abzeichnet.

Dann endlich, just in dem Moment, wo sein Gesichtsausdruck menschenfresserische Züge oder die eines Rachegottes angenommen hat, erscheint er mit Tarzangebrüll auf der Tanzfläche und verkündet den anwesenden männlichen Fremdlingen laut und glaubwürdig, daß er unverzüglich und ohne jedes Wenn und Aber aus ihnen allen Kleinholz machen werde. Zur Bekräftigung dieser Drohung beginnt er, die Zeltpflöcke kraftvoll und mit lautem Gebrüll begleitet, aus dem Boden zu reißen. Dieser Auftritt ist so überzeugend, daß die so Bedrohten mit leichenblassen Gesichtern schleunigst  unter den Zeltplanen her und  über den Boden kriechend den Schauplatz des drohenden Weltgerichts verlassen und auf Nimmerwiedersehen aus dem Dorf verschwinden.

Später zog besagter Onkel Hitzkopf hinter einer Frau her in ein Nachbardorf, um dort, brav und fast unterwürfig, sein Leben als Ehemann zu fristen. Er gab dann Zeit seines Lebens so etwas wie einen „Ärmen Deuwel“ ab.

In Schönau befleißigt man sich seither, den miserablen Ruf als Schlägerdorf durch sittsames Benehmen für immer und alle Zeiten aus der Welt zu schaffen. Dieses zur Schlägerei führende Jucken in den Fingern geborener Kampfhähne ist gleich einem Wanderpokal zu anderen Gemeinden „übergesiedelt“.

Das Hahneköppen             

Die am Samstagabend mit einem von Tambourkorps und Musikkapelle angeführten Zug durch das Dorf und anschließendem Ball eröffnete Kirmes wird am Sonntag und Montag mit Frühschoppen und abendlichem Tanzvergnügen fortgesetzt. Das ist eine anstrengende Prozedur, zumal für die jungen Männer, die in diesen Tagen kaum noch den Zustand vollkommener Nüchternheit erreichen. Um nun den Kirmesdienstag vor einem Nachlassen der Bereitschaft zum Weiterfeiern zu retten, muß dem Ball am Abend ein aufmunterndes Schauspiel am Nachmittag vorgeschaltet werden. Und da springt nun der Junggesellenverein mit dem „Hahneköppen“ (Hahnenköpfen) ein, das mit der Krönung des Siegers zum Hahnenkönig endet. Letzterer sucht sich aus dem Kreis der noch verfügbaren jungen Damen (auch etwas leichtfertig Jungfrauen genannt) seine Hahnenkönigin aus. Dieses Köpfen ist kein tierquälerisches Schauspiel und nicht mit den Stier- oder Hahnenkämpfen fremder Kulturen vergleichbar. Über die Dorfstraße wird von einem Haus zum gegenüberliegenden ein Seil gespannt, von dem über der Straßenmitte eine Wäschemang (Mang = größerer kreisrunder Korb, aus ungeschälten Weiden geflochten, nach oben mit leicht zunehmendem Durchmesser und doppelt geflochtenem Rand endend, sowie  mit zwei seitlichen Griffen versehen,) herunterbaumelt. In dieser Mang ist der bereits vorher human getötete Hahn so befestigt, daß Hals und Kopf durch den aufgeschnittenen Korbboden nach unten heraushängen.

Und nun müssen die Mitglieder des Junggesellenvereins mit verbundenen Augen, nach einem kräftigen Schnaps und von einer Startlinie ausgehend, mit erhobenem Säbel zunächst das Seil und dann die Mang aufspüren. Der Hals des Hahnes muß alsdann mit einem einzigen Schlag so getroffen werden, daß der Kopf vom Körper getrennt wird. Würde dies bereits beim ersten Schlag, also dem ersten Kandidaten gelingen, wäre das Schauspiel viel zu kurz. In den meisten Fällen gelingt es erst beim zweiten oder dritten Durchgang. Da die Würde des Hahnenkönigs einiges Geld kostet, liegt die Vermutung nahe, dass die Nassauer unter den Köpfern gezielt daneben schlagen.

 

Wo bleiben wir Kinder?              

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kirmes in unserem Dorf ganz auf das Vergnügen der Erwachsenen und der bereits zu den Tanzveranstaltungen zugelassenen Heranwachsenden abgestellt ist. Aber wo bleiben wir Kinder? Natürlich sind wir als Zuschauer beim Festzug und beim Hahneköppen geduldet. Aber sonst?

Am Samstagnachmittag ist in der Dorfmitte am Straßenrand erst eine, dann eine zweite Kirmesbude (Verkaufsstand) aufgestellt und in Betrieb genommen worden. Mein Vater, dem es obliegt, die Schulden meines Großvaters nach und nach zu tilgen und darüber hinaus auch noch mit der Erweiterung des Wohnhauses zu beginnen, ist naturgemäß zu großer Sparsamkeit verpflichtet. Nun neigt allzu große Sparsamkeit sehr schnell dazu, ungewollt und unbemerkt in einen gewissen Geiz umzuschlagen. Aber wie gesagt, Vater ist bloß sparsam und das nicht ohne Grund.

Am Kirmessonntag wage ich es, Vater recht kleinlaut um ein paar Groschen zu bitten, um mir an einer der beiden Kirmesbuden eine Stange Lakritz zu kaufen. Da verdirbt er mir so gründlich den Appetit auf Lakritz, daß ich, noch kleinlauter geworden, hiervon absehe.

 

„Weißt du eigentlich nicht, dass Lakritz aus Kinder-a-a gemacht wird?“ Er drückt es noch um eine Nuance unappetitlicher aus. Ich wusste es nicht, gehe jetzt aber schleunigst zu den Buden, um meine Freunde vor einem Kauf dieses scheußlichen Zeug zu warnen, werde dort aber bald von den Budenbesitzern schimpfend verjagt.

Unsere Mutter hat für die Kirmes, zu der auch mehrere Verwandte mit ihren Kindern aus der Stadt angereist sind, besonders leckeren Kuchen und den Eifeler Fladem gebacken. Also habe ich doch etwas von unserer Kirmes. Und dann sind da noch die als Spielgefährten willkommenen Kinder aus der Stadt.



Wallfahrtskapelle auf dem 588 m hohen Michelsberg

Motorräder und Autos in  den 30iger Jahren



Sonntägliches Treffen der Motorradfahrer vor einem Wirtshaus in Schönau. Man beachte die nicht ungefährlichen Nummernschilder oberhalb der Vorderräder.



Motorräder 

Die Abgelegenheit meines Heimatdorfes führt, besonders bei den jungen Männern, zu einem kaum zu stillenden Verlangen nach einem fahrbaren Untersatz. Und so erscheinen nach und nach einige Junggesellen und außerhalb des Dorfes beschäftigte Berufstätige, im Wesentlichen Maurer und Fabrikarbeiter, mit kleinen oder mittelgroßen Motorrädern. Die kleinen, wir nennen sie Sachsmotorräder oder Föxchen, haben Pedale (wie ein normales Fahrrad)  zum Starten und als Hilfe bei allzu steilen Bergfahrten. Sie werden meist nur von den bejahrten Männern- und zwar ausschließlich zur Fortbewegung und nicht zum Angeben- benutzt, während die jüngeren diesen Motorrad- Fahrrad- Verschnitt voller Stolz ablehnen.

Wenn man an  den Sonntagnachmittagen irgendwo im Dorf  kleinere Menschenansamm-lungen antrifft, kann man drauf wetten, dass sie sich um mehrere Motorräder herum gebildet haben, die hier, an nicht zu übersehender Stelle, voller Stolz zum Begutachten, Vergleichen und Bestaunen abgestellt worden sind.

 

Personenwagen      



.                   Dem Kutschenbau nachempfunden:Der Opel P 4 (-eckig)

 



Personenwagen      

Die Anzahl der Autos lässt sich zunächst problemlos an den Fingern einer einzigen Hand ermitteln. Es gibt nur zwei Personenautos in Schönau, die von den beiden im Dorf lebenden Handelsvertretern benötigt werden. Bei beiden Wagen handelt es sich um den unverkennbar aus einer Pferdekutsche weiterentwickelten und mit schwachem Motor versehenen viereckigen Viersitzer Opel P4, von uns auch Opel P-viereckig genannt. Der von der Partei propagierte Volkswagen kann zwar schon bestellt, aber noch nicht geliefert werden. Es heißt, er werde nur 990 Mark kosten. Es gibt bereits einige sogenannte Volkswagensparer, die mit ihren monatlichen Beiträgen dafür sorgen werden, dass im VW-Werk in Wolfsburg der erste deutsche Schwimmwagen für die schnellen Feldzüge der Deutschen Wehrmacht gebaut wird.                  

Lastkraftwagen und Bau des Westwalls        

Bei Beginn des Baues der Verteidigungslinie, von den Deutschen Westwall genannt und von den Engländern als Siegfriedline bezeichnet, entlang der Westgrenze Deutschlands im Jahr 1938, steigt die Anzahl der Lastkraftwagen im Dorf merklich an. Sämtliche an den umfangreichen Transporten von Aushub, Sand, Zement, Moniereisen (Bewehrungsstahl) und sonstigen Baumaterialien beteiligten Dorfbewohner machen das Geschäft ihres Lebens. Das geht dann so: Man kauft einen lahmen altersschwachen Lkw, lässt ihn, damit er unterwegs nicht liegen bleibt, zu Beginn nur halbvoll beladen (was wegen des enormen Bedarfs an Transportmitteln problemlos akzeptiert wird) und verdient in kurzer Zeit das Geld für einen neuen Lastkraftwagen. Ja, der Bau der als durchgehender Panzersperre gedachten Höckerlinie aus Beton und der zahlreichen, in mehreren Linien gestaffelten Verteidigungsbunker verschlingt Unsummen von Baumaterial. Die Bauüberwachung beschränkt sich wegen dieses

Höckerlinie als Panzersperre am Westwall

Umfanges auf die Qualitätskontrolle, während die Feststellung der Bau- und Fahrleistungen zu kurz kommt oder nach dem Motto „Leben und Leben lassen“ verläuft.

Nachdem die Deutsche Wehrmacht am 7. März 1936, wie bereits vorstehend erwähnt, in das gemäß Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland einmarschiert war, begann noch im selben Jahr die Planung einer Verteidigungsanlage entlang der Deutschen Westgrenze zwischen Kleve und der Schweizer Grenze. Sie soll, wie der Westdeutsche Beobachter schreibt, rund 630 km lang werden und  über etwa 18 000 Bunker und zahlreiche Höcker-linien als Panzersperren verfügen. Meine Tante Kätchen aus Gemünd in der Eifel berichtet vom Bau einer zweiten Bunkerlinie oberhalb der Stadt. Und dabei unterbricht sie ihre Schilderung immer wieder und für mich unverständlicherweise mit: „Wat soll dat nur jevve?“. Nachtrag: Aber wie berechtigt ihre Sorgen sind, wird sich im Herbst 1944 zeigen, als Gemünd in die Kriegshandlungen einbezogen wird.

Ich werde nicht nur durch die laufenden Berichte von Tante, Rundfunk und Tageszeitung auf den Bau der gewaltigen Befestigungsanlage aufmerksam gemacht, sondern muss auch in der Schule im Rahmen der Heimatkunde einen Aufsatz mit der Überschrift „Der Westwall“ schreiben. Nun gibt es in einem kleinen Dorf, das einsam und abseits der großen Welt zwischen den Bergen der Eifel liegt, manche Kinder, die, von früh bis spät in die Feldarbeit eingespannt, keine Zeit für das Hören der Nachrichten und das Lesen der Tageszeitung und auch keine gut informierte Tante haben. Als nun unser Herr Lehrer kurz und bündig die Aufgabe stellt: „Schreibt einen Aufsatz unter der Überschrift Der Westwall“, und hierzu keinerlei weitere Erläuterungen gibt, schreiben einige, die sich wohl verhört hatten, einen Aufsatz unter der Überschrift Der Westerwald. Das fällt ihnen dann gar nicht so schwer, haben sie doch in der Heimatkunde gelernt, dass der Westerwald genauso so wie die Eifel, das Bergische Land, der Taunus und der Hunsrück zum Rheinischen Schiefergebirge gehört. Sie beschreiben daher einfach ein Bergland, wie sie es von zu Hause her kennen und bringen unseren Lehrer auf die Palme.



Die Außenseiter       



Ein gar nicht so seltenes Bild

Anfang der 30iger Jahre kommen die etwas komfortableren Autos ganz selten ins Dorf. Meist ist es der zu einem Kranken gerufene Arzt aus der fünf Kilometer entfernten Stadt Münstereifel oder ein hochrangiger Parteimann, der unsere Lehrerin besucht. Wenn deren Wagen dann auch noch irgendwo länger parken, sind sie von uns Jugendlichen umlagert, betatscht und bestaunt. Manchmal werden sie sogar vom Fahrer oder Beifahrer von unten begutachtet. Aber das hat dann weniger mit reinem Vorwitz zu tun,

als vielmehr andere Gründe, wie das obere Bild unschwer vermuten lässt. Denn das Netz der Autowerkstätten ist nicht ausreichend, so dass ein Autobesitzer tunlichst auch etwas von kleinen Reparaturen verstehen sollte. Da macht ein makabrer Witz im Dorf: die Runde: „Gestern ist ein altes Mütterchen unters Auto geraten.“

„Um Gottes Willen, was hat der Chauffeur daraufhin  gemacht?“

„Er ist ausgestiegen und hat das Mütterchen wieder auf die Schraube draufgedreht.“



Die Nürburgrennen      

Es gibt pro Jahr zwei Ereignisse, die uns Jungen das Kennenlernen der gängigen Autotypen ermöglichen. Das sind die beiden Großveranstaltungen auf dem Nürburgring, der weltbekannten Rennstrecke in der Hocheifel bei Adenau: Während der Ginsterblüte findet das sogenannte Eifelrennen für Motorräder und Rennwagen statt und im Hochsommer wird der Große Preis von Deutschland als internationales Rennen der großen, von Caracciola, Tazio Nuvolari (italienischer Rennfahrer), Hermann Lang, Manfred von Brauchitsch, Bernd Rosemeyer, Hans Stuck usw. gesteuerten großen Rennwagen der Marken Mercedes Benz, Auto Union, und Alfa Romeo auf dem Ring ausgetragen. Während sich die Anfahrt der          

Zuschauer übermehrere Tage erstreckt (man kampiert romantisch             

entlang der Rennstrecke in Zelten, die unbekümmert zwischen den hochstämmigen Waldbäumen aufgestellt werden), ist die konzentrierte Rückfahrt der Motorräder, Personenwagen und Busse für uns Dorfjungen ein grandioses Schauspiel.



Rennwagen am "Karussell" auf dem Nürburgring

Die Zuschauertribüne      

Am Dorfeingang aus Richtung Nürburgring liegen parallel zur Chaussee ganze Stapel dicker Eichenstämme zum Trocknen. Dieses einige Jahre dauernde Lufttrocknen des Holzes ist wichtig, damit später, nachdem es eingebaut oder zu Möbeln verarbeitet worden ist, keine Risse entstehen werden. Diese aufgestapelten Stämme dienen uns als hochgelegene Sitz- und Zuschauerplätze.

Nun hören wir am Radiogerät rechtzeitig das Ende der Rennveranstaltung und beziehen dann unverzüglich unsere luftigen aber kostenlosen Sitzplätze. Während dieses Rückreiseverkehrs vom Nürburgring ist unsere Chaussee zur Einbahnstraße umfunktioniert. Diese rigorose Anordnung legt den gesamten Verkehr in umgekehrter Richtung lahm.   Da darf auch keiner krank werden und den Arzt aus Münstereifel kommen lassen. Aber wir genießen es und zehren noch wochenlang von diesem ach so seltenen Schauspiel. In den späten Abendstunden, wenn auch die „fußkranken“ Fahrzeuge und die Radfahrer durchgezogen sind, senkt sich wieder die dörfliche Ruhe auf Dorf und Tal.



Rudolf Caracciola, der "Meister vom Nürburgring" in seinem Silberpfeil.

Wir Jungen nennen ihn "Karratsch"

Die Traktoren (Trecker genannt) gehören weniger hierhin als vielmehr zu den Zugochsen und Pferden. Es gibt nur zwei Trecker im Dorf und ihre Besitzer haben viel Ärger mit ihnen; denn zum Starten des Motors muss eine Handkurbel kraftvoll gedreht werden. Mein Vetter flippt dabei manchmal aus. Wenn sich der Motor auch beim dritten- oder viertenmal sträubt, lässt er den Schwengel quer durch den bucklig gepflasterten Hof fliegen. Dann wiehern die in Konkurrenz  zu den Treckern stehenden Zugpferde vor lauter Schadenfreude.



In Schönau beliebt: Der in Konz bei Trier gebaute Traktor "Zettelmeyer"

In unserem Dorf ist der Buchstabe y kaum in Gebrauch und somit bei vielen Jungen unbekannt. So höre ich diese Intelligenzbestien beim "fachmännischen Bestaunen" des Traktors oder Treckers immer wieder vom Zettelmexer reden.

Das bucklige Hofpflaster

Warum, so frage ich mich, ist der Hof, von dem ich soeben berichtet habe, so bucklig gepflastert. Aber er ist ja nicht so gepflastert worden! Doch meine Tante ist, mit Verlaub zu sagen, etwas übergewichtig, und wenn sie den Hof durchquert, was tagtäglich oft genug geschieht, sacken einige schlecht unterfütterte Pflastersteine unter der Last der Ereignisse tiefer in den Boden hinein. Da kann man nichts machen! Man muss ja auch bedenken, dass das große Anwesen meiner Tante, bestehend aus einer voll in Betrieb befindlichen Wassermühle, einem Bauernbetrieb, einer Imkerei, einer Dreschmaschine, die das ganze Dorf zu bedienen hat, und dem Fuhrbetrieb mit Traktor und Anhängern für Langholztransporte, Milchabfuhr und so weiter, dieser armen Tante beträchtliche Sorgen aufbürdet, die auf ihren Schultern lasten und nun auch noch zusätzlich auf die Pflastersteine drücken. Und da ist ja

auch noch ihr Ehemann, der, jung an Jahren, seinen Teil an Aufmerksamkeit fordert. Von den vielen Kindern ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass in der Eifel kaum gut ausgebildete Paveier, so nennt man die Pflasterer seit der Franzosenzeit (von pavement= Pflasterung), zu Hause sind. Da sind angeblich  die von den steinigen Äckern im Frühjahr eingesammelten Steine, nur ungenügend behauen, einfach in die Erde gerammt worden. Nun lauft mal drüber! Aber das wird nur erzählt! Es gibt rund um Schönau mehrere Steinbrüche, wo man neben dem allgegenwärtigen Schiefer vor allem die Grauwacke findet, die sich sehr gut zu Pflastersteinen behauen lässt. Also, liebe Tante, es liegt einfach ausschließlich an deinem Gewicht und den zusätzlich drückenden Sorgen.



Schluss mit Lustig

Das bucklige Hofpflaster ist nun wirklich kein Thema zum Plattwalzen für unsere Dorfgemeinschaft, die sich in den kommenden Jahren wegen des Fehlens der zum Wehrdienst einrückenden  Männer immer mehr bewähren muss. Doch das ist eine andere Themenseite.