Schulzeit im Dritten Reich

Die Schulzeit   

anders dagegen die Schulzeit selbst! Schon der erste Gang zur Schule nach Ostern 1934 ist mir heute noch bildhaft im Gedächtnis. Meine Eltern stehen am Tor und schauen mir nach, wie ich, recht schmal und blaß, aber mit dem Bewusstsein, daß ein neuer Lebensabschnitt begonnen hat, festen Schrittes die Dorfstraße hinunter gehe. Aus dem recht groß wirkenden ledernen Schulranzen auf meinem Rücken pendelt seitlich an einer Kordel ein Lappen, der, zusammen mit dem in einer verschraubten Dose eingepackten Schwamm  als unverzichtbares Utensil für   das Ausputzen und Reinigen der Schreibtafel aus holzeingefaßtem Schiefer vorgeschrieben ist. Der Unterricht macht mir viel Spaß, vor allem, weil die nach frischem Druck riechenden Schulbücher kindgerecht bebildert sind und mit einer Mischung aus in Sütterlin (1935 offiziell eingeführte und bereits vorher benutzte deutsche Schreibschrift) geschriebenen einfachen Wörtern und bildlicher Darstellung beginnen. Ein Beispiel, das ich ein Leben lang nicht vergessen werde:         Hugo hole eine Leiter (gemalt)             

Stelle sie auf.

O, wie die Herz - Kirschen (gemalt) lachen.

Sie rufen: Hol uns, hol uns.

 

 

                                   



Mit Eltern und Bruder Alfred (links) im Garten

Das Dorf *

 

Steht ein Kirchlein im Dorf,

Führt der Weg dran vorbei

Und die Hühner die machen                                                    

Am Weg ein Geschrei.

 

Und die Tauben, die flattern

Da oben am Dach.

Und die Enten, die schnattern

Da unten am Bach

 

Auf der Brück‘ steht ein Junge,

Der singt, dass es schallt.

Kommt ein Wagen gefahren;

Der Fuhrmann, der knallt.

 

Und der Wagen voll Heu,                                                       

Der kommt von der Wies’

Und obendrauf sitzen

Der Hans und die Lies’.

 

Und dem König sein Thron,

Der ist prächtig und weich,

Doch im Heu hier zu sitzen,

Dem kommt er nicht gleich.

 

Und würd’ ich ein König,

was wäre dabei:

Ich wünscht‘ mir als Thron

einen Wagen voll Heu.

 

 

*)  Gedicht aus meinem Schullesebuch im Jahre 1935,

     aus  meinem Gedächtnis, also vermutlich nicht komplett.

 



Heuwagen mit Ochsengespann

Versuchte Beeinflussung im Kindesalter    

   

Obligatorische Schülerzeitschriften

In Deutschland hat Hitler im Jahr zuvor „die Macht ergriffen“ und unsere Lehrerin, die für die Schuljahre 1 bis 3 zuständig ist und diese in einem einzigen Klassenraum unterrichtet, stammt aus dem noch nicht wieder zu Deutschland gehörenden Saarland, das sie auf Betreiben der  Franzosen verlassen musste. Dieses Erlebnis hat sie geprägt und zur Mitgliedschaft in der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) bewegt. Sie unterbricht oft den offiziellen Unterricht, um uns mit enthusiastischen Schilderungen der rosigen Zukunft Deutschlands politisch zu beeinflussen. Und sie glaubt, was sie sagt. Zur Unterstützung dieser weltanschaulichen Beeinflussung gibt es monatlich eine Schülerzeitschrift für jeden. Für die ersten Schuljahre heißt die Zeitschrift „Die deutsche Jugendburg“ und für die älteren Jahrgänge „Hilf mit!“. Also, wir bekommen jetzt in den ersten Schuljahren die „Deutsche Jugendburg“ , die im wesentlichen kindgerechte Erzählungen von Tieren, Pflanzen und Jugendlichen bringt. Diese sind so interessant illustriert, daß sie glatt aus bebilderten Märchenbüchern von Andersen, Hauff oder den Brüdern Grimm stammen könnten. Da gehen, um ein paar Beispiele zu nennen,  Ameisen und Käfer aufrecht durch Türen in ihre in Pilzen oder Baumstämmen liegenden Wohnungen. Da schauen ängstliche

Augen eines Rehkitz aus einem dichten Roggenfeld, um die Welt ringsum auszukundschaften. Da hat ein Junge seinem vierbeinigen Freund, einem Schäferhund, zum Geburtstag einen Blumenstrauß geschenkt. Dieser revanchiert sich, indem er „Peter“ zu dessen Geburtstag einen Knochen schenkt.  Diese vermenschlichte Tierwelt packt mein Interesse als jungem Leser. Dazwischen sind dann, gekonnt eingestreut, kleine Erzählungen und Berichte politischer Natur, zum Beispiel über das große Geschenk der Vorsehung an unser Volk (den Führer) und den Beginn einer großen Aufbauarbeit. Da wird in meinem Kindskopf die Zeit vor der „Machtübernahme“ durch Hitler zu einer düsteren und für die Menschen hoffnungslosen Epoche. Wie gut, so denke ich, dass es mir vergönnt ist, in eine solch goldene Zeit hineinzuwachsen.

 



Veri in der Volksschule Schönau

Heim ins Reich, erster Teil  (es folgen mit den Jahren weitere)      

Jetzt schreiben wir das Jahr 1935. Am 1. März 1935 wird das Saargebiet nach einer Volksabstimmung wieder dem Deutschen Reich eingegliedert und unsere Lehrerin ist vor Glück schier aus dem Häuschen. Über die immer zahlreicher werdenden Volksempfänger wird das Ereignis mit viel Propaganda in die Wohnungen übertragen. Und in der Schule üben wir das Lied ein (nach der Melodie: „Bergleut´ zuhauf, der Steiger kommt...“):

 

Deutsch ist die Saar                                                                         

Deutsch immerdar.

Und deutsch ist unseres Flusses Strand

Und ewig deutsch mein Heimatland

Mein Heimatland, mein Heimatland



Dumme Frage: Ist das Wasser der Saar deutsch oder französisch?

Es leuchtet mir selbst in meinem Alter von knapp 8 Jahren ein, dass das Saargebiet oder Saarland zu Deutschland gehört, weil die dort lebenden Leute es so wollen. Gilt das auch für den Fluss, die Saar? Denn so heißt ja der Text des Liedes, das wir gerade gelernt und kräftig gesungen haben. Zu Hause gucke ich im Atlas nach. Und was entdecke ich da? Die Saar kommt aus Frankreich, wird an der Grenze von Sarre in Saar umgetauft und begibt sich dann, jetzt deutsch geworden, auf den Weg zur Mosel, die, wie ich entdecke, auch aus Frankreich kommt und an der deutsch-französischen Grenze von Moselle in Mosel umgetauft wird. Die beiden genannten Flüsse sind also in Frankreich französisch und in Deutschland deutsch. Ich frage unsere aus dem Saargebiet stammende Lehrerin, ob das so selbstverständlich sei, wo doch das Flusswasser aus Frankreich komme. Sie reagiert auf diese recht kindische Frage ungehalten und betont, die Saar komme aus Elsass-Lothringen, das bis zum Ende des letzten Krieges auch deutsch gewesen sei. Also sei sie, die Saar, und ihr Wasser ohne jeden Zweifel deutsch.. Und Grenzen müssen wohl auch sein, oder? Was hätten wir sonst für eine Unordnung in Europa! Die Flüsse haben sich danach zu richten. Sie freuen sich sogar, so glaube ich, wenn sie die Grenze zu Deutschland überschritten haben. Nun werden sie groß und schön. An ihren Ufern wächst der Wein und sie fließen in vielen romantischen Schleifen oder Flusswindungen hin und her, nur, um sich in dieser schönen Landschaft möglichst lange herumzutreiben. Das gefällt ihnen besonders und sie kommen nicht im Entferntesten auf den Gedanken, von Deutschland nach Frankreich zurückzukehren. Der Rhein allerdings, der das Wasser beider Flüsse aufnimmt, hat keinen Nationalstolz. Er verlässt Deutschland und geht, wie der letzte deutsche Kaiser, nach Holland, das er (der Rhein) dann zwar wegen der langweiligen niederländischen Tiefebene schnellstens über mehrere Fluchtwege (sie heißen Waal, Lek und Alter Rhein und werden Mündungsarme genannt) in Richtung Nordsee hinter sich läßt. „So`n Quatsch!“ sagt Vater, als ich ihm hiermit nach der Schule in den Ohren liege, „So denkt doch kein normaler Junge“. Aber ich habe gar keine Lust, mit den anderen Schülern darüber zu sprechen. Es interessiert sie einfach nicht.

Also bin ich nicht ganz normal.



Der Tag der Arbeit             


Der 1. Mai, ein sehr heißer Tag, ist zum Tag der Arbeit erklärt worden und somit offizieller Feiertag. Aber: Wir, die gesamte Schülerschaft, müssen auf dem Schulhof antreten. Das Schulgebäude ist mit Hakenkreuzfahnen und großen Spruchbändern aus Stoff geschmückt. Darauf steht z.B.: Wir, die NSDAP, sind der Sozialismus der Tat! Oder: Deutschland erwache! Dieses Deutschland erwache! kommt dann auch immer wieder in der Rede eines SA-Mannes vor und es klingt wie ein Schrei nach Befreiung von ungerechter Behandlung durch das Ausland. Die Worte unserer Lehrerin in meinem Kindskopf, empfinde ich es so. Es hört sich ja auch gut an. Immerhin endete, wie uns unsere Lehrerin beizubringen versucht, die vertragswidrige (was ist das?) Besetzung des Ruhrgebietes durch die Siegermächte des 1. Weltkrieges erst im Jahre 1930. Das ist scheinbar noch in lebhafter Erinnerung der Erwachsenen. Fast das ganze 500-Seelen-Dorf ist auf den Beinen und ich weiß nicht, ob die Leute freiwillig oder auf Anordnung gekommen sind. Am Ende einer ermüdenden Feier in der Hitze des Nachmittags springt plötzlich ein frisch eingekleideter und „gestiefelter“  schnittiger SA-Mann vor die Front der angetretenen Bevölkerung, knallt die Hacken zusammen und brüllt mit lauter aber heiserer Stimme: „Wer hat noch was zu sagen ?-  Niemand ?- Stillgestanden!. Es lebe der Führer, es lebe Deutschland! Weggetreten!“ Es erinnert mich an das Auftreten eines Zirkuspferdes vor applaudierendem Publikum. Aber, so sagt mein Vater am Abend,  mit diesen Leuten muss man ab jetzt rechnen und es ist ratsam, sie nicht mit Witzen zu bedenken. Das könnte gefährlich sein. Überall hört man: „Sag das nicht zu laut“. Da kommt ein Nichts aus dem Nichts und wird dank seiner Parteifunktion und Uniform zu einer mächtigen, gefürchteten Person des Dorfes, sagt Vater. Ich finde den ganzen Tag doof.



Die Soldaten kommen

Ein Jahr später, am 7. März 1936, marschiert die Deutsche Wehrmacht in das laut Versailler Vertrag und Locarnopakt entmilitarisierte Rheinland ein. Von diesen Verträgen verstehe ich nichts, obwohl unsere Lehrerin sagt, sie seien nicht rechtens und würden unsere Ehre verletzen. Das soll doch wohl heißen, dass man uns Deutsche beleidigt, oder ?- Also darf man sie missachten! Basta!

 

Endlich mal etwas Abwechslung           In der Schule werden wir davon in Kenntnis gesetzt, daß eine Kompanie Soldaten von der Ahr kommend über unser Heimatdorf nach Münstereifel weitermarschieren wird. Alles, was das langweilige Dorfleben unterbricht, interessiert uns Jungen riesig.  Mit ein paar Schulkameraden gehe ich daher nach dem Mittagessen weit vor der angegebenen Zeit zur Kreuzung der Dorfstraße mit der Chaussee (so nennen wir die einzige asphaltierte Landstraße) und warten sehr, sehr lange.

Zwischendurch überlegen wir, wie eigentlich die Soldaten der neuen deutschen Wehrmacht aussehen mögen. Wir alle haben ja schon Bilder von früheren Weltkriegssoldaten gesehen. „Sie kommen ganz bestimmt auf Pferden geritten“ sagt mein Freund Otto. „Ja, aber es gibt doch heute auch Tanks, das sind eiserne Autos mit Ketten“, sagt ein anderer, ich glaube, es war Willi. „Auf alle Fälle haben sie Uniformen an“ , sage ich und alle stimmen mit mir darin überein.



Euskirchener Krad-Schützen

Militarisierung des Rheinlandes

Dann hören wir den Marschtritt einer Kolonne Soldaten. Als sie in unser Blickfeld kommen, zählen wir enttäuschende 12 Mann. Ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei, das schon seit einem Jahr als strammer SA-Mann auftritt, schleppt, in Uniform, mit imponierendem Gehabe einen Eimer Trinkwasser heran, das er dann, becherweise portioniert, den durstig und verstaubt wirkenden Soldaten darreicht. Dann sagt er, dem müden Haufen hinterher blickend: „Das waren also unsere Soldaten“. Nach den Schilderungen der Kriegserlebnisse meines Vaters hatte ich mir eine größere Truppe mit mindestens einem stolzem Reiter vorneweg vorgestellt. Und ein Trompeter hätte nach meiner jungenhaften Vorstellung auch dazugehört. Später wird mein Vater sagen: Wenn an diesem 7. März 1936 die Franzosen mit ihrer Armee aufgetaucht wären, hätte es vielleicht ein paar Tote, aber keinen kriegstreibenden Hitler mehr und keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Ich persönlich glaube, die paar Soldaten, die wir heute sahen, hätten sich im Münstereifeler Wald versteckt und wären dann, nach dem Abzug der Franzosen, gebückt und still über den Rhein zurückgegangen. Also, mir haben sie nicht im geringsten imponiert. Nachdem am 24.August 1936 die Dauer der Allgemeinen Wehrpflicht auf 2 Jahre festgelegt wurde, wird unsere Kreisstadt Euskirchen Garnison für eine motorisierte Einheit der Deutschen Wehrmacht und ab diesem Zeitpunkt tauchen auf unseren Straßen immer öfter Soldaten mit Motorrädern mit und ohne Seitenwagen, so genannte Krad-Schützen (von „Kraftrad“), auf. Das sind natürlich für uns Jungen willkommene Unterbrechungen des täglichen Einerleis. Und sie wirken auch schon imposanter als die zwölf Soldaten, die wir beim Einmarsch ins Rheinland als erste zu Gesicht bekamen. Jetzt glaube ich nicht mehr an das plötzliche Auftauchen von französischen Soldaten. Naja! Wir sind doch hier ziemlich am Rand Deutschlands. Auch sonst ist das Jahr 1936 voller Ereignisse, die uns Schuljungen stark interessieren. So wird ab Januar in Rostock das weltschnellste Verkehrsflugzeug He 111gebaut, so berichtet uns unsere Schülerzeitung Deutsche Jugendburg.

Was wir Jungen hier mit eigenen Augen sehen und was wir als einen kümmerlichen Haufen deutscher Soldaten empfinden, wird später einmal kopfschüttelnd erwähnt werden, wenn vom Nichtreagieren der Franzosen die Rede ist. Dem verantwortlichen französischen  General Gamelin wird man vorwerfen, er habe die Stärke der Deutschen maßlos überschätzt und er habe einen Erfindungsreichtum ohnegleichen gehabt, um die eigene Untätigkeit zu entschuldigen.



Spanischer Bürgerkrieg   



Im Juli 1936 bin ich während der Schulferien bei Verwandten in Meckenheim zu Besuch. Da kommt in den Abendnachrichten, die ich vor dem Schlafengehen noch hören darf, die groß herausgestellte Meldung über einen Militärputsch in Spanien und den Beginn des Spanischen Bürgerkrieges. Die 

spanische Regierung und ihre republikanischen Truppen werden als Rotspanier und die Putschisten unter General Franco als Nationalspanier bezeichnet. Kurz darauf stellen Deutschland und Italien Freiwilligenlegionen zusammen, die General Franco unterstützen. Die deutsche Legion Condor stellt im wesentlichen Fliegerverbände auf, die hier, im blutenden Spanien, die modernen Waffen für den kommenden 2. Weltkrieg ausprobieren. Im Rheinland werden viele geflohene Spanier bei Privatfamilien untergebracht. Die Spanier, die ich bei Nachbarn meiner Verwandten in Bad Godesberg kennenlerne, sind, so wird erzählt, vor den „Rotspaniern“ aus Barcelona geflohen. Aber auch auf der anderen Seite, die sich Internationale Brigade nennt, kämpfen deutsche Freiwillige, Was soll man nun denken? Ein Schuljunge denkt noch nicht darüber nach, wer in diesem Bürgerkrieg das Recht auf seiner Seite hat. Für mich sind die kriegerischen Auseinandersetzungen in Spanien einfach spannend, weil sie aktuell sind. Und so bin ich für die nächste Zeit auch nicht mehr sonderlich  an den Schilderungen der schon weit zurückliegenden Kriegserlebnisse meines Vaters von 1917/18 interessiert.



Erst viel später, nach dem Zweiten Weltkrieg, wird man erfahren, dass es in Spanien damals  einen „Bürgerkrieg im Bürgerkrieg“ gab. Während in den übrigen, von den Republikanern beherrschten Gebieten mehr und mehr die von Moskau gesteuerten Roten dominierten, hatte in der Provinz Katalonien mit der Hauptstadt Barcelona eine anarchistische Regierung die Macht übernommen. Von Stalin in Moskau kam die Anweisung, die anarchistische Richtung bis zu ihrer Vernichtung zu bekämpfen. Die Spanier, die ich in Bad Godesberg kennengelernt hatte, könnten also durchaus dem von den Anarchisten angerichteten Chaos entflohen sein. Antoine de Saint Exupérie erwähnt ja auch in seiner Schrift „Blutendes Spanien“, wie er in Barcelona einen Adligen angetroffen habe, der in vollkommener Ungewissheit auf ein Urteil wartete, ob er ein Volksfeind sei oder nicht und der

bis zu diesem Zeitpunkt mit seinen möglichen Henkern in einer Kneipe Karten spielte. Wer will schon als gebildeter Mensch in einer solchen Ungewissheit leben?                                              

                                                                       

In den Nachrichten des Reichssenders Köln höre ich täglich die Nachrichten. Diese berichten ebenfalls laufend von den beiden Kriegsschauplätzen der Welt. Im Fernen Osten sind die Japaner nach China eingerückt. Doch dieser Konflikt ist so weit weg, dass er meine jugendliche Neugier kaum berührt. Aber der Bürgerkrieg in Spanien! Dieses Ereignis interessiert mich sehr stark. Unser Schulatlas zeigt das spanische Territorium so winzig, dass er sich nicht für die Verfolgung der Meldungen mit dem jeweiligen Frontverlauf eignet. Also setze ich mich kurzerhand hin und lege über die Karte von Spanien ein mit Bleistift gezeichnetes Gitternetz (von Koordinaten will ich da nicht reden, da es ganz nach Belieben angelegt ist), so dass eine größere Anzahl von Planquadraten entsteht. Dann nehme ich als Zeichenfläche die Rückseite eines großen Blattes aus unserem Wandkalender, auf das ich dieselbe Anzahl von Quadraten, allerdings mit größeren Abmessungen zeichne. Und nun übertrage ich alle wesentlichen geographischen Details entsprechend vergrößert aus den Quadraten des Schulatlas auf dieses Blatt. Mein Vater, der unverhofft das Zimmer betritt, schimpft erst einmal fürchterlich wegen des herausgerissenen Kalenderblattes und der „bemalten“ Atlasseite, bis er den Sinn meiner Ungezogenheit erkennt. „In dem Alter?“ brummt er nur.

 

Später werde ich dieses Land öfter mit meinem PKW bereisen und als eine friedliche Gegend kennen lernen . Die Paradores, ehemalige Burgen und Schlösser, in denen ich mit Vorliebe übernachten werde, erzählen von einer weit zurückliegenden Zeit: Der sich über Jahrhunderte erstreckenden Reconquista, der Wiedereroberung des maurischen Spanien.

 

 

Mir ist bei dieser eigentlich recht unbedeutenden Auseinandersetzung mit meinem Vater klar geworden, dass ich meinen Lebensweg nicht ohne Widerstand beschreiten werde.

 



Hinterher ist mein Vater stets nicht ganz ohne einen versteckten Stolz bezüglich meiner Interessen und Ideen. Aber er will es mir nicht zeigen. Meine Mutter reagiert meist mit mehr gezeigtem Verständnis.

Nun muß ich ehrlich gestehen, daß mein Interesse am Verlauf des Spanischen Bürgerkrieges in diesem Alter nicht schon einem wirklichen Interesse an historischen Ereignissen entspringt. Es ist einfach spannend, weil es jetzt geschieht und nicht vor meiner Geburt im Jahre anno Tobak stattgefunden hat. Und dann sind da die wohlklingenden fremden Namen: Zaragoza, Salamanca, Toledo. Ja, Toledo! Da wird von dem spannenden Kampf um den Alcazár berichtet, in dem die Kadetten eingeschlossen sind. Kadetten, das sind doch fast noch Kinder wie wir!

Und dann singe ich meinem Freund ein spanisches Lied vor. Der einzige spanische Name darin heißt Salamanca. Alles andere ist Kinderquatsch und Angeberei, die mein Freund ohnehin nicht so recht glaubt. Im Vertrauen: Ich beherrsche nicht eine einzige Fremdsprache. Woher auch?

 

Das Radio, ein Fenster zur Welt  (und ein Propagandainstrument der Partei)      



Für die Propagandamaschine der Partei bestens geeignet: Der Volksempfänger         



Was unseren Radioapparat anbelangt, so war Opa zunächst gegen diesen „Teufelskram“. Nun verfiel Vater auf einen Trick: Ein Zimmer unseres Hauses ist als Büro für die von ihm als Rendant geführte Spar-und Darlehenskasse eingerichtet, in dem die Landwirte unseres Dorfes und auch die der kleinen Nachbardörfer nach Einbruch der Dunkelheit oder im Sommer nach dem abendlichen Stalldienst ein- und ausgehen. Nun hat, so erzählt mein Vater sowohl Opa als auch uns Kindern, der Radiohändler des Dorfes hier leihweise und für uns kostenlos ein Radiogerät, Marke Telefunken, aufgestellt, um die Kunden der Spar- und Darlehenskasse zum Kauf eines Gerätes zu animieren. Tagsüber verschwindet Opa immer öfter im Kassenzimmer, stellt das Radio an und „marschiert“, den Suchknopf drehend, von einem Sender zum anderen. Ich bemerke Vater gegenüber, Opa brauche zum Sendersuchen einen Drehschwengel. Nach etwa einer Woche meint Opa beim Abendessen so nebenbei: „Ihr könntet das Radiogerät auch kaufen und für immer behalten, aber dann bitte nicht im Kassenzimmer stehen lassen, sondern hier aufstellen, wo man nicht von Fremden gestört wird.“

Für mich bedeutet das Radiogerät ein Fenster zur Welt. Auf der Skala stehen die Namen von Sendern fremder Länder, von denen ich bisher noch nie etwas gehört hatte. Und dann schaue ich im Atlas nach. Wo liegt Upsala, wo Hilversum? Und ist  Beromünster bei Bern? (Beromünster ist eine kleine Gemeinde im Kanton Luzern, deren Namen jedoch wegen des in der Nähe befindlichen Landessenders der Schweiz auf der Skala eines jeden Radioapparats zu finden ist.) Viele dieser Sender geben in ihren Sendungen in deutscher Sprache an- und abschwellende Geräusche von sich, die beim Anschwellen halbverständliche Mitteilungen enthalten. Das macht das Abhören gerade erst spannend! Doch von unserer Lehrerin erfahren wir, diese Sender, zu denen auch Radio Luxemburg gehört, würden nur lauter Lügen verbreiten und man solle sie tunlichst nicht abhören. Das sei geistige Selbstverstümmelung. Oje! Wieder so ein Begriff, mit dem ich nichts anzufangen weiß.

Samstagnachmittags kommt vom Reichssender Köln eine Unterhaltungssendung mit Volksmusik, lustigen Geschichten und kölschen Witzen. Zum Schluß heißt es dann: „Sie hörten die drei lustigen Gesell´n vom Reichssender Köln.“ Die Namen der Spaßmacher kennt bei uns jedes Kind. Es sind Rudi Rauher, Karl Wilhelmi und Hans Salcher. Einen ihrer Witze habe ich auf Dauer behalten: Das Luftschiff Graf Zeppelin ist überfällig und wird mit Bangen erwartet. Endlich kommt eine Funkverbindung zustande und auf die Frage der Bodenstation in Friedrichshafen antwortet Hugo Eckener, der Kommandant der Graf Zeppelin: „Leck am Hinterteil,  wir kommen“. Wer lacht da?



Kinderkarneval      

Vater besitzt eine große Schachtel mit Theaterutensilien. Zu Karneval muss mein Jungengesicht herhalten, damit es von Vater mit einem großen wallenden Bart und einem Schneuzer beklebt wird. Der Kleber stinkt abscheulich, klebt aber nachhaltig und ist später nur mit einer nicht weniger stinkenden Tinktur zu entfernen. Meine Eltern finden meine „Verwandlung“ großartig und schicken mich als wandelndes Kunstwerk zur Schule. In der Schule singen wir in der letzten Unterrichtsstunde die bekannten Karnevalslieder, wie:

Es war einmal ein treuer Husar, der liebt sein Mädel ein ganzes Jahr.....,

Alle Möpse beißen, nur der kleine Rollmops nicht. Oh Susanna, ist das Leben doch so schön.....,

Alle Böcke springen, nur der alte Holzbock nicht.............,

Heidewitzka Herr Kapitän, mem Möllemer Böötche fahre mir esu jän.......,

und so weiter.

Das letztgenannte Lied wird bald in allen möglichen Abwandlungen gesungen, wie:

 

Heidewitzka die NSV, die sammelt Ziegelsteine für `ne Kasernebau......, oder

Heidewitzka die NSV, die sammelt Ääpelschale für die dicke Sau..

Zur Erläuterung: NSV heißt die für das Sammeln beim Winterhilfswerk, an Eintopfsonntagen und bei sonstigen Aktivitäten zuständige Organisation Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Dicke Sau ist ein Pseudonym für den übergewichtigen Leiter der Luftwaffe und Reichsjägermeister Hermann Göring. Wir Kinder wissen recht gut, daß diese Verballhornungen verboten sind und singen sie gerade deshalb mit viel Lust aus voller Brust



De Eähzebär  (Erbsenbär)               

Am Karnevalsdienstag kommt Jahr für Jahr de Eähzebär. Er wird, in Erbsenstroh eingehüllt, von einem „Bärenführer“ durch die Dorfstraße geführt und zum Tanzen gezwungen. Angeblich sollen unsere Vorfahren hiermit das Wegschaffen des Winters dargestellt haben. Ich bin von dem Namen dieses „Bären“ so angetan, dass er sich in mein Abendgebet eingeschlichen hat. So entsteht aus den Versen

 



Alles meinem Gott zu Ehren

In der Arbeit, in der Ruh‘

Gottes Lob und Ehr zu mehren

 

Ich verlang und alles tu,

 

in Mutters Beisein folgendes Gebet:                                    

 

Alles meinem Gott zu Ehren

In der Arbeit, in der Ruh‘

Gottes Lob und Eähzebären

Ich verlang und alles tu

 

Meine stets sehr verständige Mutter läßt den für sie recht ungewohnten Text unbeanstandet, vermutlich, um mir vor dem Einschlafen kein schlechtes Gewissen zu verschaffen. Im Sommer sind die Eähzebären wieder spurlos aus meinem Kindskopf und dem Abendgebet verschwunden.

Auf den Bildern in den Illustrierten sieht man, wie bei den Großveranstaltungen der Partei ganze Fahnenwälder von Marschkolonnen hin und her getragen werden. 



Marschieren und Fahnenkult.

In unserem Dorf ziehen die wenigen SA-Leute mit ihren Sammelbüchsen von Haus zu Haus, knallen beim Eintreten die Hacken militärisch zusammen und sagen ihren Spruch auf, wie: „Einer für alle, alle für einen!“ Es sind Kleinbauern, deren Erträge nicht einmal für den eigenen Lebensunterhalt reichen und die nun von der Partei eine gute Nebeneinnahmequelle als Wegewärter für die Kreisstraßen, es sind Sandstraßen mit Schotterunterbau, zugewiesen bekamen. Wenn sie zum Empfang der Sammelbüchsen zur Schule marschieren, geben sie ein unvergessliches Bild ab: Sie marschieren dicht aufgeschlossen und müssen deshalb breitbeinig nach außen ausschreiten, um  nicht in die Hacken des Vordermannes zu treten. Aber sie tragen stolz ihre braunen Uniformen:

SA im Gänsemarsch!

 

 

Mittlerweile werden die Bürger aufgerufen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie dem Tag der Machtergreifung, dem Eintopfsonntag, dem Tag des Winterhilfswerks, dem Tag der Auslanddeutschen usw., zu flaggen. Mein Vater hängt dann, um der Aufforderung halbwegs nachzukommen, eine Fahne mit den Farben gelb und weiß heraus. Ich kenne ihre Bedeutung nicht, vermute aber, dass es die Farben der Fahne für kirchliche Feste sind. So flattert sie quasi als Fremdling zwischen all den



Hakenkreuzfahnen lustig im Winde der zugigen schmalen Dorfstraße. Das wirkt provozierender, als wenn an meinem Vaterhaus gar keine Fahne herausgehängt worden wäre. Und so wird meinem Vater auch bald bedeutet, er möge sich schleunigst eine Hakenkreuzfahne anschaffen, wenn er nicht sein Nebenverdienst als Rendant der Spar-und Darlehenskasse verlieren möchte. Also hängt auch er bald

gezwungenermaßen die freiwillig gekaufte Hakenkreuzfahne in den Wind der neuen Zeit. Es sind ja inzwischen mit mir zusammen drei Söhne zu versorgen. Mir wird ob dieser Begebenheit so langsam bewußt, wie wichtig die Fahnen für das Wohlergehen unseres Vaterlandes zu sein scheinen.  Der unschätzbare Wert der Fahnen wird mir dann durch ein inzwischen eingeführtes Lied der Hitlerjugend noch bewusster. Reichsjugendführer Baldur von Schirach schrieb dieses Lied für den Propagandafilm „Hitlerjunge Quex“:

 

Vorwärt! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren,

vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren.

Deutschland du wirst leuchtend stehn

mögen wir auch untergehn.

....Ist das Ziel auch noch so hoch,

    Jugend zwingt es doch!

 

Refrain:

Unsre Fahne flattert uns voran.

In die Zukunft ziehn wir Mann für Mann.

Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not,

mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.

 

Unsre Fahne flattert uns voran.

Unsre Fahne ist die neue Zeit.                                    

Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit.

Ja, die Fahne ist mehr als der Tod.

 

Strophe 2

Jugend! Jugend! Wir sind der Zukunft Soldaten.

Jugend, Jugend, Träger der kommenden Taten.

Ja, durch unsre Fäuste fällt,

wer sich uns entgegenstellt.

 

Jugend! Jugend! Wir sind der Zukunft Soldaten.

Jugend, Jugend, Träger der kommenden Taten.

Führer, wir gehören dir,

wir Kam’raden dir! Usw.

 



Ja, die Fahne!

Ich hatte ja vorher keine Ahnung! Nun behaupten böse Zungen, der eifrigste „Fahnenträger“ der Nation sei der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley. Der sei ja täglich blau (besoffen). Aber so was erzählt man nur unter zuverlässigen Freunden.

 

Aus den Schulräumen werden jetzt die Kreuze entfernt. Man wird sie später, vor Ende des Krieges, auf dem Boden einer Eifeltalsperre wieder finden, nachdem das Wasser nach einem Torpedoangriff  von Flugzeugen der Alliierten durch das entstandene Loch in der Sperrmauer abgeflossen ist. Aber von alledem hier Erzählten abgesehen, leben wir Jugendlichen in unserem Dorf das stinknormale Dasein von früh in die Feldarbeit eingespannten Jugendlichen. Ab dem 10. Lebensjahr heißt es, mit anzupacken und das Spielen auf die Sonntage zu reduzieren, denn die Mechanisierung der Landwirtschaft ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, noch nicht bis in die karge Eifellandschaft vorgedrungen. Es fehlen eben die finanziellen Mittel hierfür. Armes Heimatland!

 

Zwischen alten Zeitschriften und Heftchen auf unserem Speicher entdecke ich ein Gedicht von Ernst Moritz Arndt, das mir gar nicht gefällt:

(auszugsweise)

„Als ich mal nach der Eifel fragt,                 Selbst eine Stadt im Eifelland,

wies man mich immer weiter,                     die nach der Eifel ward benannt,

bis plötzlich einer rückwärts wies.               verschwor sich hoch: Zum Teufel,

Ist das nicht äußerst heiter?“                      wir gehören hier zur Eifel nicht,

                                                               gehören nicht zur Eifel!“                                                            

Man schämt sich also, Eifler zu sein! Und das bedrückt mein junges Herz spürbar, denn ich liebe meine Heimat.

 



Vaters Gute-Nacht-Geschichten

 

Meine engere Heimat, die Nordeifel, wird unter anderem von Gestalten bevölkert, die in den gekonnten abendlichen Erzählungen meines Vaters an den langen Winterabenden vorkommen. Da gibt es den Müller Hannes, ein Gegenstück zum Schinderhannes. Während Letzterer vornehmlich im Hunsrück lebte, trieb der Müller Hannes in der Gegend um Münstereifel während der Franzosenzeit sein Unwesen. Eines Tages, so eine der wahren Geschichten, war mein Ur-ur-Großvater *) auf dem Weg von meinem Heimatdorf Schönau zur damaligen Kreisstadt Rheinbach, um dort eine Steuerschuld zu begleichen.

*) Die Anzahl der "Ur" ist nicht auf ein Stottern zurückzuführen. Wenn der Müller Hannes  am 18. November 1801 im Alter von 29 Jahren geköpft wurde, müsste es zeitlich in etwas stimmen.

Er hatte also eine größere Summe Geld bei sich. Als er den Münstereifeler Wald durchquerte, tauchte plötzlich aus dem Unterholz eine nicht Vertrauen erweckende Männergestalt auf und schickte sich an, meinen Großvater zu begleiten. Dieser Fremdling befragte meinen Großvater über seine Meinung über den Müller Hannes. Opa war schlau genug, eine diplomatische Antwort zu geben und so sagte er: „Soviel mir bekannt ist, nimmt er den reichen Leuten Geld ab und gibt es den Armen.“ Darauf sagte der Fremde: „Ich weiß wer Sie sind. Sie sind der Kleinbauer Weber aus Schönau und Sie sind mit Geld unterwegs nach Rheinbach. Ich werde Ihnen keinen Pfennig abnehmen. Aber ich begleite Sie bis zum Ende des Münstereifeler Waldes, damit Sie nicht von meinen Kumpanen behelligt werden. Am Waldrand verabschiedete er sich relativ höflich und verschwand so schnell im Dickicht, wie er vorhin aufgetaucht war.

Der Dolchstoß durch die Lehmwand

 

Dieser Müller Hannes hatte eines Abends hinter der Rückwand eines außerhalb der geschlossenen Ortschaft gelegenen Fachwerkhauses mit seinen Weggefährten beratschlagt, wie sie den Schönauer Kirchenschatz in ihren Besitz bringen könnten und dabei auch den Zeitpunkt des Einbruchs festgelegt. Der Bauer lag zum Zeitpunkt dieses Treffens in seinem Bett und hatte das Gespräch belauscht, weil die Lehmwand des Fachwerkhauses so dünn war, daß man im Schlafzimmer jedes ihrer Worte verstehen konnte. Er sorgte dann dafür, daß zum Zeitpunkt des geplanten Einbruchs eine bewaffnete Einheit des Militärs an der Kirche Wache hielt und den Raub vereitelte. Tags darauf lag der Bauer abends wieder in seinem Bett, als er ein Geflüster hinter seinem Haus hörte. Dann wurde es mäuschenstill und ein Dolch durchbohrte die Lehmwand und blieb, ihn nur um ein paar Millimeter verfehlend, in seiner Oberbettdecke , dem wärmenden Plumeau, stecken. Am anderen Morgen, nach einer Nacht mit unruhigem Halbschlaf, schlimmen Träumen und mehrmaligem erschreckten Aufwachen, stand der Bauer vor seinem Rasierspiegel und erblickte darin einen über Nacht ergrauten Mann. Er kannte sich nicht mehr wieder, beschloß aber nach einigem Nachdenken, dieses ihm fremde Gesicht zu rasieren.

Der Eierberg

 

Eines Tages war eine Frau mit einem Korb voller Eier auf dem Weg von Schönau nach Münstereifel, um die Eier dort zu verkaufen oder auf dem Markt gegen andere Waren einzutauschen. Einem fremden Begleiter gegenüber beschimpfte die Frau den Müller Hannes mit Worten, wie sie eigentlich nur bei Marktfrauen der damaligen Zeit üblich waren. Da gab sich der Fremdling als eben dieser zu erkennen, band die Frau an einen Baum und warf ihr sämtliche Eier an den Kopf. Dann verschwand er. Der Berg oberhalb dieser Wegstrecke heißt, unabhängig von der amtlichen Flurbezeichnung, im Volksmund auch heute noch „Eierberg“.

Das Jeckendorf

 


Es gibt weit südlich meines Heimatortes ein Dorf, dessen Namen ich, obwohl er mir bestens bekannt ist, nicht nennen werde. In diesem Dorf wohnten reiche Bauern, die, um den Reichtum im Dorf zu belassen, auch nur dort heirateten und so zum Entstehen einer ausgeprägten Inzucht mit all ihren negativen Folgen beitrugen. Eine dieser unausbleiblichen Folgen war das Verblassen eines logischen Denkens. Hiermit soll die dem Durchschnittsmenschen innewohnende Logik gemeint sein. Denn sie, die Bewohner des ungenannten Dorfes, entwickelten ihre eigene Logik, die, obwohl vom Ansatz her total blödsinnig, durchaus viel mühevolle Denkarbeit erforderte. Also, eines Tages war der Dorfbulle, ein kräftiger Garant für gesunde Kälber, gestorben. Die Honoratioren des Dorfes versammelten sich im Gemeindesaal, um die zu treffenden Maßnahmen zu beratschlagen. Man war sich schnell einig, daß der Kauf eines neuen Bullen zu riskant sei, weil ja niemand die Gleichwertigkeit dieses Neulings im Vergleich zum gestorbenen Prachtkerl garantieren könne.

 

Also wurde der Schmied, bekannt für seine stets unübertroffen guten Einfälle, bemüht, einen Vorschlag zu unterbreiten, was dieser auch bereitwillig tat. Hier seine geniale Idee: Der tote Stier wird auf so kleine Stücke geschnitten, daß man hiermit mühelos ein Feld neuer Stiere säen kann. Den Acker für dieses neuartige Verfahren wird er zur Verfügung stellen, zumal dieser wegen der vielen Schmiedearbeit ohnehin in den letzten Jahren nicht bestellt wurde und brach lag. Gesagt, getan. Das Feld wird gepflügt, mit der Egge bearbeitet und im Spätherbst mit den Fleischstückchen des toten Bullen eingesät. Im darauffolgenden Winter gedeiht also auf diesem Acker des Schmiedes unter einer schützenden Schneedecke kein Roggen (nach dem berühmten Spruch „es wächst viel Brot in der Winternacht“), sondern das Leben junger Stiere.

 

Im Vorfrühling, nach der Schneeschmelze trifft man sich wieder im Gemeindesaal, um das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Von vornherein steht fest, daß man  den Acker jetzt in Augenschein nehmen muß und daß diese verantwortungsvolle Aufgabe dem Schmied anheim fällt. Aber, der Kontrolleur darf keinesfalls über das Feld laufen und das keimende Leben in Grund und Boden treten. Und hier ist nun wieder die dem „Dorf der Jecken“, wie es anderwärts genannt wird, eigene Logik gefragt. Und so setzt man den Schmied auf eine Tragbahre, die von zwei Bauern vorsichtig über den Acker getragen wird.

Mittlerweile hat sich eine stattliche Schneckenschar auf den Weg zu diesem Acker gemacht. So weit das Auge reicht, tun sich diese hungrigen Tiere jetzt an den aufgetauten Fleischstückchen gütlich. Der Schmied sieht die Schnecken mit ihren Fühlern, die er für Hörner hält, und ruft voll Glück und Stolz ob seines gelungenen Vorschlags: „Männer, die Stiere keimen schon, ihre Hörner kommen schon heraus!“ Soweit ist die Geschichte bis in die umliegenden Dörfer gedrungen, über den weiteren Gang der Ereignisse aber ist hier nichts mehr bekannt geworden. Die dem Dorf der Jecken eigene Logik hätte ohnehin keiner verstanden.




Der nackte Fuchs     



Einem am Waldrand wohnenden Bauern werden in letzter Zeit laufend Hühner gestohlen. Zurückgelassene Federn zeigen eindeutig, dass hier ein Fuchs am Werk war. Eines Tages sitzt der Bauer auf seinem Plumpsklosett, das als Bretterhäuschen separat neben dem Wohnhaus steht. Da sieht er, durch das herzförmige Guckloch der Tür äugend, wie der Hühnerdieb vom Waldrand aus auf das Hühnergatter schaut, um vermutlich im nächsten Augenblick einen neuen Raubzug zu beginnen. Nun hängen an der Wand des „Herzhäuschens“ ein alter Vorderlader und eine Schießpulverdose. Leider hat er aber keine Patronen zur Hand. Da fällt sein Blick auf die auf  einem Seitenbrett stehende Dose mit den auf dem Lande üblichen Schuhnägeln. Flugs schüttet er, da keine Zeit zu verlieren ist, Schießpulver und Schuhnägel in den Lauf des Vorderladers und hilft mit einem Ladestock nach. Dann legt er den Lauf in die herzförmige Öffnung in der Tür, zielt haarscharf und drückt ab. Es gibt einen gewaltigen Knall und eine Rauchwolke, die ihm zunächst jede Sicht nimmt. Nachdem sich der Pulverdampf verzogen hat, ist kein Fuchs mehr zu sehen.

 

Am späten Nachmittag desselben Tages begibt sich der Bauer mit seinem Spazierstock auf den Weg zum Wald, um seine Schonung in Augenschein zu nehmen. Da bemerkt er einen aufrecht an einen Baum gelehnten Mann, der sich dauernd am Ohr krabbelt. Doch welch eine Überraschung, als er beim Näherkommen den Fuchs erkennt. Vom Knall des Schusses erschreckt, war dieser aus dem Stand heraus hoch in die Luft gesprungen. In diesem Moment durchbohrte ein Schuhnagel sein rechtes Ohr und heftete dieses so fest an den Baumstamm, daß er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Der Bauer in seiner Wut über die Hühnerdiebstähle der letzten Tage schlägt mit seinem Spazierstock solange auf den Fuchs ein, bis diesem das gegerbte Fell  lose am Körper herunterhängt und er in höchster Not mit einem gewaltigen Satz aus diesem jämmerlich aussehenden Fell springt und splitternackt im Wald auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

 

Das sind ein paar Kostproben der Geschichten, die uns unser Vater an den Winterabenden erzählt. Wir verstehen sie auch als Kinder so, wie sie gemeint sind: Als Witze, über die man zwar nicht lautstark lacht, die aber die langen Abende ausfüllen und für ein leichtes Schmunzeln taugen. Wer den englischen Humor kennt, wird auch uns Eiflern eine besondere Art von Humor zubilligen.

 

Und dabei handelt  es sich auch noch um  (zumindest ein paar) wahre Begebenheiten

 



Einem am Waldrand wohnenden Bauern werden in letzter Zeit laufend Hühner gestohlen. Zurückgelassene Federn zeigen eindeutig, dass hier ein Fuchs am Werk war. Eines Tages sitzt der Bauer auf seinem Plumpsklosett, das als Bretterhäuschen separat neben dem Wohnhaus steht. Da sieht er, durch das herzförmige Guckloch der Tür äugend, wie der Hühnerdieb vom Waldrand aus auf das Hühnergatter schaut, um vermutlich im nächsten Augenblick einen neuen Raubzug zu beginnen. Nun hängen an der Wand des „Herzhäuschens“ ein alter Vorderlader und eine Schießpulverdose. Leider hat er aber keine Patronen zur Hand. Da fällt sein Blick auf die auf  einem Seitenbrett stehende Dose mit den auf dem Lande üblichen Schuhnägeln. Flugs schüttet er, da keine Zeit zu verlieren ist, Schießpulver und Schuhnägel in den Lauf des Vorderladers und hilft mit einem Ladestock nach. Dann legt er den Lauf in die herzförmige Öffnung in der Tür, zielt haarscharf und drückt ab. Es gibt einen gewaltigen Knall und eine Rauchwolke, die ihm zunächst jede Sicht nimmt. Nachdem sich der Pulverdampf verzogen hat, ist kein Fuchs mehr zu sehen.

 

Am späten Nachmittag desselben Tages begibt sich der Bauer mit seinem Spazierstock auf den Weg zum Wald, um seine Schonung in Augenschein zu nehmen. Da bemerkt er einen aufrecht an einen Baum gelehnten Mann, der sich dauernd am Ohr krabbelt. Doch welch eine Überraschung, als er beim Näherkommen den Fuchs erkennt. Vom Knall des Schusses erschreckt, war dieser aus dem Stand heraus hoch in die Luft gesprungen. In diesem Moment durchbohrte ein Schuhnagel sein rechtes Ohr und heftete dieses so fest an den Baumstamm, daß er sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien konnte. Der Bauer in seiner Wut über die Hühnerdiebstähle der letzten Tage schlägt mit seinem Spazierstock solange auf den Fuchs ein, bis diesem das gegerbte Fell  lose am Körper herunterhängt und er in höchster Not mit einem gewaltigen Satz aus diesem jämmerlich aussehenden Fell springt und splitternackt im Wald auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

 

Das sind ein paar Kostproben der Geschichten, die uns unser Vater an den Winterabenden erzählt. Wir verstehen sie auch als Kinder so, wie sie gemeint sind: Als Witze, über die man zwar nicht lautstark lacht, die aber die langen Abende ausfüllen und für ein leichtes Schmunzeln taugen. Wer den englischen Humor kennt, wird auch uns Eiflern eine besondere Art von Humor zubilligen.

 

Und dabei handelt  es sich auch noch um  (zumindest ein paar) wahre Begebenheiten

 



Dieser schlaue Fuchs lässt sich nicht an einen Baum festnageln

sondern sucht Schutz in seinem Bau.

Der Westdeutsche Beobachter 

 

Ich weiß, meine Eltern wollen mir das Interesse an den Abendnachrichten in diesem, wie sie sagen, zarten Alter nicht abnehmen. Es kann doch einfach nicht sein, dass sich ein Junge im Alter von 8 bis 10 Jahren zum Beispiel für einen Krieg im fernen Spanien mit dem sich ständig ändernden Frontverlauf interessiert. Gut, ich nehme die Nachrichten so auf, wie andere die Karl-May-Geschichten. Ob Ihr’s nun glaubt oder nicht!

Aber das in einem Talkessel gelegene Heimatdorf ist für mich einfach zu eng. Egal in welche Richtung ich schaue, immer stößt sich mein Blick an irgendeinem Berg: Eierberg, Hammersberg, Langscheider Berg, Michelsberg oder Koppnück. Eine so begrenzte Welt muss ich deshalb mit meinen Phantasien durch das Überspringen der einengenden Berge erweitern. Das ist einfach so! Und dafür brauche ich  Hilfe.

 

Wie sieht eigentlich eine Grenze aus?     



Einzig zugelassene Tageszeitung: Westdeutscher Beobachter

Nun beziehen meine Eltern die einzige zur jetzigen Zeit zugelassene Tageszeitung, den in Köln gedruckten Westdeutschen Beobachter. Vater sagt, er bringe nur das von der Regierung Zugelassene. Aber ich lerne durch ihn viele Teile der Welt (grob) kennen, weil fast jeden Tag irgendein Ausschnitt aus einer Landkarte den jeweiligen Weltnachrichten zugefügt ist. Ich schneide sie aus und lege sie zwischen die Seiten meines Schulatlas. So lasse ich selber so etwas wie lebendige Erd- und Geschichtskunde entstehen. Aber glaubt nur nicht, dieses einseitige Wissen würde mich reifer werden lassen! Es ist mehr ein Einsiedlerspiel, denn meine Eltern haben kaum Zeit für mich.  Aber im Einzelnen? Ich habe zum Beispiel nicht die geringste Ahnung von einer Landesgrenze und glaube darum, sie sei ein sehenswertes Etwas. Also sage ich meinen Eltern, ich möchte gerne die Grenze bei Aachen sehen und ich falle ihnen tagelang mit diesem kindischen Wunsch auf den Wecker. Und so ist das mit vielen Dingen, die außerhalb unseres Talkessels liegen und mir nur zu Gehör oder durch die Zeitung zu Gesicht gekommen sind.

 

Fortsetzungsgeschichten in der Tageszeitung

 

Warum greife ich täglich voller Wissensdurst nach der Tageszeitung? Da sind zum einen die interessanten Nachrichten über die sich überschlagenden Ereignisse in Deutschland und dem übrigen Europa. Und da gibt es zum anderen höchst spannende Fortsetzungsberichte. Nachtrag: Die in meinem fortgeschrittenen Alter erscheinenden Tageszeitungen scheinen die absatzfördernde Wirkung solcher Berichte, die man ja bis zur letzten Fortsetzung lesen möchte, zu ignorieren.

Bis vor einigen Wochen las ich im Westdeutschen Beobachter den Fortsetzungsbericht „Der Untergang der Titanic“ Selbst in diesem Bericht erfuhr ich einiges über den Mut und die Opferbereitschaft der Deutschen. Also, da spielte doch die Bordkapelle, die bereits auf dem schräg liegenden Oberdeck in Richtung Reling rutschte, und später auch rettungslos über Bord ins Wasser glitt, aufopfernd weiter. Ob sie auch noch unter Wasser weiterspielte, habe ich vergessen oder überlesen. Aber dann kam der Satz: „Es war natürlich eine deutsche Musikkapelle“.



Das Dritte Reich                 


Vater schneidet uns Kindern, um äußerste Sparsamkeit bemüht, persönlich die Haare. Da er immer in Eile ist, geht das Schneiden mit der von Hand, also nicht elektrisch betriebenen Haarschneidemaschine meist in ein unangenehmes Rupfen über. Als Vater für ein paar Tage bei Verwandten zu Besuch weilt, dränge ich meine Mutter, mir die Haare bei einem Nachbarn schneiden zu lassen. Dieser Nachbar ist Mitglied der SA und zeigt mir ein Buch mit dem Titel „Männer des Dritten Reiches“. Ich lese interessiert darin und stelle dann die Frage nach dem Sinn      dieses Begriffes. Er versucht mir so gut wie    möglich zu erklären, wie dieser Begriff zustande    gekommen ist. (Ihr müßt wissen, dass dies die Bezeichnung für das  nationalsozialistische Deutschland unter Hitler ist.) „Also“, sagt unser Nachbar, „früher, viel früher, gab es einmal das Erste Deutsche Reich, das sich auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation nannte. Es wurde 1806 aufgelöst, als Napoleon Europa beherrschte. Das Zweite deutsche Reich begann am 18. Januar 1871, als der preußische König  im Spiegelsaal des Schlosses von                     

Versailles bei Paris nach dem Sieg über die Franzosen   im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser gekrönt wurde. Dieses Zweite Reich endete mit der Revolution von 1918 und der Flucht Wilhelm II. nach den Niederlanden. Und jetzt haben wir seit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 das Dritte Reich.“

 

 

Ich lasse mir das Gehörte durch meinen Jungenkopf gehen, an dessen Haaren mittlerweile eifrig herumgeschnippelt wird. Dann sage ich: „Nach dem Dritten Reich kommt also irgendwann das Vierte Reich und dann das Fünfte.“ Ein wissendes Lächeln huscht  über das mir jetzt wohlwollend zugewandte Gesicht des haareschneidenden Nachbarn. „Nee Jung, das Dritte Reich dauert ewig, mindestens aber 1000 Jahre.“ Tausend ist für mich eine gewaltige Zahl und bedeutet deshalb soviel wie ewig. „Unsere Lehrerin hat uns das auch so ähnlich erklärt. Sie ist sehr stolz auf den Führer und auch Mitglied der Partei. Aber in dem Buch hier werden nur die Männer des Dritten Reiches gezeigt. Warum?“ sage ich. „Ja Jung, die Geschichte wird von den Männern gemacht. Den Frauen hat unser Führer andere wichtige Aufgaben zugedacht. Wenn eine Frau vier Kinder oder mehr geboren hat, bekommt sie das Mutterkreuz. Das ist eine große Ehre. Werde erst mal erwachsen, dann wirst du das verstehen. Das Dritte Reich steht nicht unter’m Pantoffel.“  Den letzten Satz habe ich  besonders gut behalten, aber überhaupt nicht verstanden. Das übrige Gehörte vergesse ich zum Teil wieder. Es ist zu viel auf einmal! Dann, zu Hause, falle ich anschließend meiner Mutter auf die Nerven, besonders, weil sie der Meinung ist, das Dritte Reich werde nicht sehr lange dauern. Ich denke im Stillen: Die ärgert sich, weil in dem von mir erwähnten Buch nur von Männern die Rede ist und deshalb sagt sie das.

In der Schule frage ich unsere Lehrerin, wann Hitler zum Kaiser gekrönt werde. Sie weiß es nicht und faselt etwas vom „Führerprinzip“. Da wage ich 

Den Frauen hat unser Führer andere Aufgaben zugedacht.“    

gar nicht zu fragen, warum nur immer von den Männern und nicht auch von den Frauen des Dritten Reiches die Rede sei.

 



Ab dem vierten Kind wird den Müttern das Mutterkreuz verliehen.

Jetzt bin ich ‘s aber leid und möchte schneller älter werden und die Welt besser verstehen lernen. Ich möchte auch liebend gerne nach Münstereifel aufs Gymnasium gehen. Vater lehnt dies aber ab, weil es zu weit von uns weg sei. „Du wirst auch so im Leben weiterkommen“, meint er allen Ernstes.              Wollen mal sehen!



Unsre Fräulein ist sehr streng,                Fräulein liebt den Führer sehr                                                          

die Schulbänke klein und eng;                 und das neue Deutsche Heer,

ich muss mich dran gewöhnen.                fährt auch zum Reichsparteitag.

Fräulein schaut mal hier, mal dort.            Den Kreisleiter liebt sie auch,

Leider geht sie selten fort,                        der mit Uniform und Bauch,

drum muß ich leise stöhnen.                     erscheint an jedem Freitag.

 

Schiefertafel erst geputzt,                         Fräulein hängt gern Bilder auf,

dann mit Griffel wird benutzt,                     wechselt sie im Jahreslauf;

um kratzend drauf zu schreiben.                 sie kommen von der Rolle.

Manchesmal viel Zeit verliert,                     Heute ist der Winter dran,

wenn man ungewollt geschmiert;                mit Schlittschuhlauf und’ nem

                                                               Schneemann

dann muss man sitzenbleiben.                    darüber die Frau Holle.

 

Komm‘ ich mal zu spät nach Haus,               Und die „Deutsche  Jugendburg“      

schimpfen mich die Eltern aus:                     gibt uns neue Nachricht durch

„Wo bist du denn geblieben?                         von wichtiger Bedeutung.

Hast wieder unterwegs geträumt,                  Ihr habt es sicher schon kapiert:

den kurzen Weg nach Haus versäumt,           Sie wurd‘ von Hitler eingeführt,

dich bummelnd rumgetrieben!“                      als eine Schülerzeitung.

 

Langsam macht die Schule Spaß,                   Manchmal heißt es: „Sachen weg!“

lern‘ mal dies und lern‘ mal das,                   Fräulein nennt uns dann den Zweck:

vor allem Bücherlesen.                                 Muß gegen Juden hetzen.

Dadurch kann ich mehr verstehn,                   „Selbst Josef von Ägypten ist,

was ich bisher noch nie gesehn,                     wie ihr sicher alle wißt,

was kommt und was gewesen.                       ein Brecher von Gesetzen.“

 

 

Doch das hatt‘ ich nicht gewußt,

obwohl ich oftmals und mit Lust

von Josef hab‘ gelesen.

Fräulein hat wohl sicherlich

andren Bibeltext als ich,

wahrscheinlich einen bösen.*

 

 

 

 

*) Sinngemäß korrekt wiedergegeben..                                 

Diese Judenhetze wird mit der Zeit

zum Lieblingsthema unserer Lehrerin.

 



Die Krankenkommunion

 

Die von unserem haarschneidenden Nachbarn erläuterte Geschichte von den Männern des Dritten Reiches und den deutschen Frauen, denen der Führer andere Aufgaben zugedacht hat, hat mich einige Tage beschäftigt. Na ja, diese Mädchen! Da bin ich doch mächtig stolz, ein Junge zu sein. Wie heißt es in einem Lied:

 

Es klappert der Huf am Stege,

wir zieh’n mit dem Fähnlein ins Feld.

Blut’ger Kampf alle Wege,

dazu sind auch wir bestellt.

 

Von uns Jungen werden demnächst Heldentaten verlangt! Das wird uns von unserer Schülerzeitung  und den täglichen Nachrichten eingeimpft. Das bleibt auch bei mir nicht ohne Wirkung. Doch dann macht sich hin und wieder die Erziehung des Elternhauses bemerkbar. So zum Beispiel, wenn von hilfsbedürftigen und kranken Menschen, für die in der so genannten Herrenrasse kein Platz zu sein scheint, die Rede ist.

 

Ich bin jetzt in unserem Hof und höre von der Straße her ein Bimmeln, so wie es während der Messfeier in der Kirche von den Messdienern gemacht wird. Ich gehe nach draußen. Jetzt kommen sie um die Ecke: Vorneweg der Küster mit der Schelle und dahinter der Pfarrer mit einem Kelch in den Händen. Nun weiß ich Bescheid, denn das ist uns in der Christenlehre erklärt worden. Unser Pastor ist unterwegs, um den Kranken die heilige Kommunion zu bringen. Und ich weiß auch, was ich zu tun habe: Als die beiden an mir vorbeikommen, knie ich mich mit einem Knie auf die Erde nieder und sage: „Gelobt sei Jesus Christus“ und der Herr Pastor antwortet „In Ewigkeit Amen“. Und so wie ich, machen es alle Leute im Dorf, ob alt ob jung.

 

Nachdem ich kurz zuvor noch von todbringenden Heldentaten geträumt hatte, empfinde ich jetzt eine innere Ruhe und eine Dankbarkeit dafür, dass die armen Kranken nicht vergessen und allein gelassen werden. Es gibt also eine Institution, die sie für wichtig hält und sich ihrer annimmt. Die Partei hingegen spricht immer öfter von unwertem Leben, das dem deutschen Vaterland nichts nützen würde. Und so erlebe ich immer wieder, wie jetzt, einen wachsenden Widerspruch zwischen der wortgewaltigen Erziehung durch die Partei und der ruhigen vorgelebten Erziehung durch mein Elternhaus. Aber ich bin bei meinem unausgereiften Wissen und Begreifen unausgesprochen der Meinung, beides irgendwie in Einklang bringen zu müssen. Da ich mit niemandem darüber spreche, kreist das Problem immer und immer wieder in meinem Kopf herum. Dann flüchte ich mich in die mir übertragene Kinderarbeit.

Und von einer der das Dorf umgebenden Eifelhöhen klingt, von einem lauen Lüftchen getragen, das von einem Hütejungen gesungene und von seiner Ziehharmonika begleitete Lied herüber:

 

„Fahr mich in die Ferne mein blonder Matrose......“

 

Und so macht mein Herz einen erneuten Sprung, diesmal hinein in eine Sehnsucht nach Weite und Freiheit. Aber das ist nicht die von den Liedern der Hitlerjugend besungene Freiheit. Die Weite, die diese Freiheit brauchen würde, ist durch streng bewachte Reichsgrenzen eingeengt (Unabhängigkeit vom Ausland, auch hierbei) und für viele Jahre für uns alle nicht mehr erreichbar.

 

 

 

 



Julklapp

Jetzt, es ist wieder einmal Adventszeit, beginnt unsere Lehrerin, uns auf Weihnachten vorzubereiten. Natürlich freut sie sich auch persönlich auf die Festtage. Natürlich? Aber so natürlich oder selbstverständlich ist das gar nicht. Denn es ist noch immer erste Voraussetzung für den Beruf als Lehrerin, ledig zu bleiben. Und daher wird die Lehrerin auch im täglichen Sprachgebrauch als „die Fräulein“ (nicht das Fräulein) bezeichnet. Meine städtischen Vettern und Kusinen sagen, das sei an ihren Schulen genau so.

Als die ledige „Fräulein“ wäre sie aber an den langen Festtagen in ihrer großen Dienstwohnung sehr, sehr einsam. Aber da springt der Kreisleiter der Partei aus der Kreisstadt Euskirchen kollegial, freudig und mit nationalsozialistischem Elan ein. Er kommt an allen Feiertagen prompt zu unserer Fräulein zu politischen Besprechungen unter vier Augen, wie mein Vater augenzwinkernd sagt. Unsere Fräulein hat, so glaube ich, unheimlich viel am Hals. Das kann man ihr getrost glauben. Aber, dass ihr diese nervenaufreibenden Besprechungen auch noch Freude bereiten, will mir nur schwer einleuchten.

Wie kann ich wissen, dass es ihr so viel Freude bereitet? Also, ich habe vor einem Jahr einmal gesehen, mit welcher überschäumenden Begeisterung sie ihren in schicker SA-Uniform heranstolzierenden Gesprächspartner auf dem Schulhof empfing. Sie ging dabei, wahrscheinlich im Gedanken an die vor ihnen beiden liegende verantwortungsvolle Parteiarbeit, in die weich gewordenen Knie und kippte mit dem Oberkörper beängstigend nach hinten weg, so daß sich der hilfsbereite Kreisleiter über sie beugen und sie krampfhaft festhalten und wieder aufrichten musste. Ich musste  ja hilflos zusehen, wie einem Menschen plötzlich die Kräfte und das Bewusstsein schwinden. Ich kann euch sagen! Das sah zunächst sehr, sehr schlimm aus, war dann aber nochmals gut gegangen.

Also, die Freude auf Weihnachten ist bei unserer Fräulein echt. Jetzt übt sie mit uns eine neue Form von Weihnachten ein. Sie heißt „Julklapp“. Das „Julfest“ war eine altnordische Feier gewesen, die später mehr oder weniger mit dem christlichen Weihnachtsfest verschmolzen wurde. Und nun soll, wie die Fräulein sagt, Weihnachten wieder mehr der früheren germanischen Sitte angepaßt werden. So lernen wir unter anderem auch ein Gedicht, das einen so richtig die Sonnwendstimmung unserer Vorfahren an den langen Winterabenden in den tiefverschneiten Gegenden Skandinaviens spüren lässt. Ich habe den Text auf dem Nachhauseweg von der Schule teils vergessen. Bruchstückhaft geht er etwa so:



Julklapp in Skandinavien

Wenn die Urväter einst abends am Kienspan hockten,

weißes Schweigen umher Wege und Wälder bannte.

Nur die Urahne sprach, die den heimlichen Faden sponn,

der die Geschlechter miteinander verknüpfte.

 

 

Da ich den Text des Gedichtes total durcheinander gebracht habe, schaue dich doch lieber im Lesebuch nach. Und so lautet es wirklich:

 

Wintersonnenwende

 

Wenn die alten Urväter winters am Kienspan hockten-

 

weißes Schweigen umher Wege und Wälder bannte,

nur die Urahne saß und den heimlichen Faden spann,

der die Geschlechter miteinander verknüpfte,

Sagen von deutscher Kraft götteräugiger Helden-

Während tiefer und tiefer Nacht sie finster umhing,

hob sie plötzlich die Hand, die alte, und sagte:

Morgen ist Sonnenwend! Schürt das heilige Feuer,

dass der finstere Wolf sich in die Höhle verkreucht!

 

Hei! Dann sprangen sie auf, blaugeaugt und blondhaarig,

rannten bergan mit der Loh. Gläubig aus jedem Haus

trugen sie heimlich bang gehegte Hoffnung

wiederkehrenden Lichts auf die Hügel hinauf.

Hügel hob sich zu Hügel und um heilige Lohe

Rundete rings sich das Volk.

 

Wir, Genossen der Nacht, wissen das heilige Zeichen

freier Flammengewalt, die das Dunkel zerreißt!

Soll es verglimmen?- Nein!

Opferbereit eure Herzen, heimliche Fackeln,

tragt all sie hügelhinan! Mehr! Und immer noch mehr!

Heb dich, heilige Lohe! Herzkraft der Jugend, glüh

Und erleuchte die Welt!

 

Ich muss dieses Gedicht, das ich nur schwer verdauen und schon gar nicht behalten kann, unbedingt meiner Mutter zeigen! Deren Gesicht aber blickt beim Lesen immer verständnisloser drein, bis sie kopfschüttend bemerkt, hier solle wohl eine altgermanische Mystik anstelle unseres Glaubens gesetzt und zu neuem Leben erweckt werden. Ist das so? Hat der Nationalsozialismus in dunklen Urvätermythen bärenjagender Germanen seine geistigen Wurzeln? (Das sind Mutters Worte.) Da fällt mir nämlich ein, dass meine Tante aus Gemünd neulich von der Beerdigung eines SA-Mannes berichtete, der Kreisleiter der Partei habe beim Herablassen des Sarges in das Grab gerufen: „Fahr ein in Walhall und melde dich bei Horst Wessel!“ Dann erst durfte der Pfarrer nach vorne treten und die üblichen Gebete sprechen. Die SA aber war inzwischen mit klingendem Spiel, flatternden Fahnen und langsam verglimmenden Pechfackeln abmarschiert.

 

Und nun zurück zum Julklapp. „Also“, spricht unsere Fräulein, „beim Julklapp wurde bei unseren Vorfahren ein Überraschungsgeschenk, vielfach ein Scherzgeschenk, mit dem Ruf Julklapp ins Zimmer geworfen. Wir aber wollen unsere selbstgebastelten Geschenke unter derselben Bezeichnung  an die Kinder anderer Schulen in  weit von uns entfernten Orten schicken, die dann ihrerseits Geschenke basteln und an unsere Schule für euch senden. So entsteht eine große Volksgemeinschaft in unserem Vaterland.“ Also kaufe ich mir eine Laubsäge und Sperrholz und begebe mich ans Werk. Es soll das Modell meines Vaterhauses werden, sieht dann aber mehr nach einer verlassenen, unbewohnbaren Hütte aus. Doch was ich nach Wochen aus einem mir unbekannten Ort erhalte, sieht nach gar nichts aus.

Ein Glück, dass wir bei uns zu Hause noch das richtige Weihnachtsfest mit Tannenbaum, brauchbaren Geschenken, Plätzchenteller und gemeinsamem Singen der Weihnachtslieder feiern.

Aber noch ist es nicht so weit. „Nun wollen wir auch ein neues Weihnachtslied üben, das in unsere neue Zeit passt“, sagt unsere Fräulein. Ach ja, denke ich, es muß wie Julklapp von der Partei abgesegnet sein. Und dann wird gesungen:

 

Hohe Nacht der klaren Sterne, die wie weite Brücken steh`n,

über einer großen Ferne,

drüber unsre Herzen geh`n.

 

Mütter, euch sind alle Sterne, alle Brücken aufgestellt.

Mütter, tief in euren Herzen schlägt das Herz der weiten Welt.

 


Das Lied hat eine schöne Melodie und hört sich gut an. Singen wir also kräftig drauf los! Im Nachherein denke ich jedoch, das Lied sei viel zu weltoffen für die allein auf das Wohlergehen unseres eigenen Volkes gerichtete NSDAP. Meine Mutter, der ich das Lied schlecht und recht (ich halte so schlecht die Melodie) vorsinge, meint, hoffentlich nimmt man genug Rücksicht auf die Mütter, die ihre Söhne nicht groß ziehen, damit sie in den Krieg geschickt und zu Krüppel geschossen werden. „Mutter“, sage ich, „der Krieg ist doch in Spanien und nicht bei uns. Und aus Deutschland, so sagte unsere Fräulein, gehen nur Freiwillige dorthin. Sie werden also nicht geschickt, sondern gehen aus freien Stücken.“

        Aber, was soll ich mir zu Weihnachten wünschen? Im vorigen Jahr bekam ich ein großes Jugendjahrbuch. Es hieß „Der gute Kamerad“ und enthielt viele interessante Kurzgeschichten über neue Rennwagen, schöne deutsche Landschaften und Tiere unserer Heimat und einige lange Erzählungen, die in Form von Fortsetzungen über das Buch verteilt waren. So hieß eine dieser Fortsetzungsgeschichten „Mit den Konquistadoren ins Goldland“ und eine andere „Die Schleipiraten“ und selbstverständlich eine  über die abenteuerlichen Erlebnisse in einem Ferienlager der Hitlerjugend. Ach ja, da war noch eine Geschichte unter dem Titel: „Mit dem Luftschiff nach Deutschostafrika“. Es handelte vom Kampf der deutschen Schutztruppe unter dem General Von Lettow-Vorbeck im Krieg von 1914/18. Ich fand das Buch sehr interessant und lese auch heute noch hin und wieder darin. Doch in diesem Jahr wünsche ich mir Schlittschuhe. Ich gebe mich mit Schlittschuhen zufrieden die durch Drehen mittels Schlüssel an meinen deftigen Straßenschuhen festgeklemmt werden. Mehr brauche ich nicht! Schlittschuhlaufen, Rodeln, Skilaufen und Lesen füllen meine Tage im Winter aus.

In wenigen Jahren werden wegen der Kriegsvorbereitung die Verbrauchsgüter Mangelware werden und man wird das Christkindchen (den von den Geschäftsleuten später erfundenen Weihnachtsmann kennen wir noch nicht) in Kriegste-nix-Kindchen umtaufen. 

 

Auch alle Jahre wieder: Frostbeulen

 

Der Wind treibt Schnee in feinen Streifen,   Doch langsam wird der Frost abscheulich.

die kräuselnd von den weißen Fluren,          Er treibt mich flugs zurück nach Hause.

wie Fahnen in die Bläue zieh‘n.                    Und hier, mit warmem Bad versehen,

Das lässt in mir die Sehnsucht reifen,           schmerzen die Frostbeulen greulich,

mit meinen Schiern fortzutouren,                 an beiden Füßen ohne Pause

zu Wintereinsamkeiten hin.                          und vor allem an den Zehen.

 

Ich weiß, das sind so meine Macken!           Frostbeulen sind in unsern Tagen,

Die Landschaft wirkt wie fremde Weiten,      wo schlechte Schuhe undicht sind

obwohl sie mir ohn‘ Schnee vertraut.           und die Strümpfe Nässe zieh‘n,

Versucht das Fernweh mich zu packen?        die schlimmste von des Winters

                                                                 Plagen.           

Lässt träumen mich von weichem Gleiten,     Doch Mutter schimpft: „Unartig Kind!“

auf Hundeschlitten, ohne Laut?                     Und gibt mir bitt‘re Medizin.

 



Die „Kriegsschuldlüge“



Mit dieser Formulierung gelingt es den Nationalsozialisten, viele ehemalige Frontkämpfer für ein „Zerreißen“ des Versailler Vertrages und uns Jungen für Hitlers „Deutschland erwache!“  generell zu begeistern. Wer über Jahre in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gelitten hatte, kann die pauschale Diskriminierung einer ganzen Armee nur schwer ertragen. Manche, die sich zunächst, wie einer meiner Onkel, in der Organisation „Der Stahlhelm“ verärgert zusammengefunden hatten, wechselten jetzt zur NSDAP oder wurden von dieser zwangsweise als Parteimitglieder pauschal übernommen..



Gebietsabtretungen
Unleserliches Flugblatt zum Thema "Kriegsschuldlüge"

Ich muss dieses schmuddelige Flugblatt gar nicht lesen können. Wir erfahren genug zu diesem Thema in der Schule. Der Versailler Vertrag ist hiernach ein Diktat der Siegermächte über das am Boden liegende Deutschland. Als der deutsche Graf von Brockdorff- Rantzau den Vertrag unterzeichnen musste, zog er sich vor der Unterschriftsleistung die Handschuhe an, die er anschließend, für alle sichtbar, auf dem Tisch liegen ließ. In unserem Schullesebuch steht dieses Vorkommnis unter der Überschrift „Die Handschuhe des Grafen von Brockdorff-Rantzau“.

 

Unser Herr Lehrer erläutert dieses Verhalten wie folgt: Da der Vertrag die alleinige Kriegsschuld Deutschlands festschreibt, wurde das Deutsche Reich zu gewaltigen Reparationsforderungen der Alliierten herangezogen. Alle Parteien, einschließlich der Sozialdemokraten, lehnten den Vertrag deshalb als „Diktat- und Schand-frieden“ ab. Da die Alliierten jedoch bei Nichtunterzeichnung mit noch höheren Forderungen drohten, kam es am 28. Juni 1919 zum Vertragsabschluss wider Willen. 

Jetzt erläutert unser Lehrer anhand einer Wandkarte   (siehe obiges Bild)                        

die im Vertrag festgelegten Gebietsabtretungen: Elsass-Lothringen fällt an Frankreich, Eupen-Malmedy an Belgien, Posen und Westpreußen an Polen, das Memelgebiet an Litauen und das Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei. Obwohl wir Jungen diese Namen vorher kaum einmal gehört hatten, kommt durch die erläuternden Worte unseres Lehrers eine richtige Wut in uns hoch. Ich kann es an den Gesichtern der Mitschüler ablesen. Mir persönlich hat es das Hultschiner Ländchen besonders angetan. So ein niedlicher Name! Das klingt nach Schutzbedürftigkeit. Ich kann es nicht fassen: Da gehen die siegestrunkenen Alliierten hin und zerren dieses wehrlose Ländchen aus den umklammernden Armen seiner Mutter Deutschland heraus, um es diesem fremden Land (wie heißt es noch mal) Tschechoslowakei einfach zu schenken. Das zur „Freien Stadt“ erklärte Danzig wird dem Völkerbund unterstellt und dem polnischen Zollsystem eingegliedert. Das ist mir zu kompliziert, zumal ich den Namen Völkerbund noch nie gehört habe. Dann sagt unser Lehrer, das sei nur ein Teil des Vertrages. Es wird weiter bestimmt, dass Nordschleswig zwischen Deutschland und Dänemark geteilt wird. Die Besetzung des linksrheinischen Gebietes wird auf 15 Jahre festgelegt. Das gesamte Rheinland ist für das deutsche Berufssoldatenheer von 100 000 Mann tabu. Schwere Waffen und Luftstreitkräfte sind generell verboten.

Wenn jetzt Adolf Hitler den Versailler Vertrag Stück für Stück für null und nichtig erklärt, findet er eine breite Unterstützung in der deutschen Öffentlichkeit.

Die unter Druck erfolgte Vertragsunterzeichnung wird von der jetzigen national-sozialistischen Regierung als Verrat bezeichnet.

 

Als ich jetzt dieses Thema abends bei meinem Vater zur Sprache bringe, bekomme ich zu meinem großen Erstaunen keinen merklichen Widerspruch von ihm zu hören. (Das Hultschiner Ländchen interessiert ihn zwar überhaupt nicht.) Später einmal erklärt er mir das Empfinden der ehemaligen Kriegsteilnehmer, zu denen ja auch er zählt, so: Wer an der Front Tag für Tag das Grauen der Materialschlacht im schlammigen Schützengraben neben sterbenden und toten Kameraden über sich ergehen lassen musste, erlitt dasselbe Schicksal wie der französische oder britische Soldat auf der anderen Seite. Freund und Feind kämpften in den besten Jahren ihres verblühenden Lebens im Glauben an eine gerechte Sache unter gewaltigen Opfern und Entbehrungen. Durch die einseitige Schuldzuweisung aber wurde der deutsche Soldat im Gegensatz zu den Frontkämpfern der anderen Seite  seiner Ehre beraubt und sein Opfergang wurde als Schandtat von Hunnen dargestellt. So was war für ihn kaum zu ertragen.

Komisch: Wenn ich mich mit einem meiner Brüder streite, werden wir beide von Mutter zur Ordnung gerufen. Da der Schuldige meist nur schwer zu ermitteln ist und Mutter wenig Zeit für langatmige Befragungen und Ermahnungen hat, begnügt sie sich meist mit einer gleichmäßigen Verteilung der Strafe auf uns beide. Danach schimpfen wir schicksalsverbunden und in treuer Eintracht über unsere Mutter, wobei wir meist verschwörerisch und flüsternd auf der Erde hocken. Danach vertragen wir uns vorübergehend wieder schlecht und recht.

Warum, so frage ich mich, hätte der Schrecken des Krieges mit dem Erkennen seiner Nutzlosigkeit (beide Seiten hatten laut unserem Lehrer mehr verloren als gewonnen) nicht zu einem ähnlichen „Sichvertragen“ unter den Völkern Europas führen können. In unserer Tageszeitung, dem Westdeutschen Beobachter, ist immer öfter vom Erbfeind Frankreich die Rede. Der Begriff wird zwar nicht weiter erklärt und begründet. Und England? Da spricht man von einem Raubstaat. In den Zigarettenschachteln der Marken Eckstein und Alpha sind Bilder zum Sammeln und Einkleben in ein Album mit dem Titel „Raubstaat England“ .Wenn ich, so „bearbeitet“ auf den Globus schaue und mir die Vielzahl der britischen Kolonien betrachte, glaube ich, diese Bezeichnung sei wohl nicht unberechtigt. Denn es will mir kaum einleuchten, dass diese vielen Völker Großbritannien angefleht hatten, von ihm besetzt zu werden. Aber Hitler will ja neben den an unsere Nachbarn abgetretenen Gebieten auch die ehemaligen Kolonien wieder haben. Unser Lehrer hat jetzt eine große Wandkarte bekommen, auf der die im Weltkrieg verloren gegangenen deutschen Besitzungen klar und deutlich eingezeichnet sind. Die wichtigsten liegen in Afrika und heißen: Deutsch-Ostafrika (das spätere Tansania), Deutsch-Südwestafrika (das spätere Namibia), Kamerun und Togo. (Die Insel Sansibar wurde schon während der Kaiserzeit mit den Briten gegen die Insel Helgoland eingetauscht.) Und da hat Vater eigentlich Recht, wenn er kopfschüttelnd sagt: „Wie soll bei diesen Gebietsforderungen Hitlers ein friedliches Zusammenleben in naher Zukunft zustande kommen?“ Ich sage nur halbherzig: „Ja, aber das Hultschiner Ländchen!“

Mutter schimpft oft: „Muss ich euch denn alles zweimal sagen?“ Ja ja! So ist das auch mit den Staaten untereinander. Es muss also erst noch ein zweiter Krieg Europa ins Elend stürzen, damit die Staaten zur Besinnung kommen.


Gibt es bald wieder Krieg mit Deutschland, Vater?“

„Er steht schon grinsend vor der Tür.“



Unser Ländchen im Dreiländereck

 



Warum geht mir das kleine Hultschiner Ländchen nicht aus dem Kopf?  Ganz einfach: Wir haben in unserer unmittelbaren Nähe auch ein so genanntes „Ländchen“. Es liegt zwischen Schönau (Regierungsbezirk Köln), Tondorf (Regierungsbezirk Aachen) und Wershofen (Regierungsbezirk Koblenz), also im Dreiländereck. Die Leute dort wohnen nicht, wie wir, an einer asphaltierten Landstraße, kommen also mit der übrigen Welt kaum in Kontakt und sind daher auch in  der Mode nicht ganz auf dem Laufenden. Die Jungen aus diesem Ländchen erscheinen hin und wieder mit ihren knielangen Hosen, die von uns Jungen als Ländchensbotze bezeichnet werden, in unserem Dorf. Aber wir schauen weniger mit Hochmut auf diese Langhosen, als vielmehr mit echtem Verständnis auf ihr Bemühen, mit uns in einen freundschaftlichen Kontakt zu kommen. So erscheinen sie, zum Beispiel, Jahr für Jahr mit Feierlaune auf unserer Kirmes und an den Sonntagen setzen sie sich bei gutem Wetter gerne an unserer Chaussée auf die zum Trocknen aufgestapelten Langhölzer und bestaunen von dieser „Tribüne“ aus die vorbeifahrenden Autos und Motorräder. Im Gegenzug besuchen wir  dann im Herbst ihr „Deckebonnefess“. Es ist ja nicht auszudenken, wenn man uns dieses liebenswerte Ländchen mit seinen liebenswerten Menschen weggenommen und einem anderen Staat, zum Beispiel Belgien, übergeben hätte.

Doch das ist ja durch den Versailler Vertrag mit Eupen-Malmedy geschehen, deren deutschsprachigen Einwohner in den Gebieten von Eupen und St.Vith sich auch nach der Abtretung an Belgien als waschechte Eifeler fühlen, während das Gebiet um Malmedy schon immer frankophil geprägt war.

 

Komisch: Jenseits der Sprachgrenze (deutsch / französisch) verwandelt sich die Eifel in die Ardennen.

 

 



Massenhysterie

Wenn ich versuche, mir einzureden, der ganze Kult um die Person des Führers (Hitler sagt man meist gar nicht mehr, sondern nur der Führer) sei doch nur ein von der Partei inszeniertes Spektakel, dann scheinen mir die täglichen Bilder in Zeitungen, Illustrierten und Wochenschauen das Gegenteil zu beweisen. Unsere „Fräulein“ sagt, die Vorsehung (die „Vorsehung“ ist an die Stelle von Gott getreten) habe das Schicksal Deutschlands in die Hände einer einzigen Person gelegt. Und wir müssten von Dankbarkeit über dieses Geschenk der Vorsehung erfüllt sein. Wenn die Fräulein vom Nürnberger Reichsparteitag, den sie Jahr für Jahr besucht, zurückkommt, glüht sie vor Begeisterung und spricht von der Macht des Gemeinschaftserlebnisses. Ich kann ja auch selbst oft nur schwer verstehen, warum meine Eltern gar nichts Großartiges an diesem Mann finden.



Unsere Lehrerin fährt jedes Jahr zum Reichsparteitag nach Nürnberg und ist begeistert vom Aufmarsch der Massen.

Da muss doch was dran sein! Auf der Umschlagseite unseres Geschichtsbuches steht er in einer Reihe mit Friedrich dem Großen und Bismarck, genauso ernst und entrückt wie diese. Eisenfressertypen! Vater hält die übertriebenen Begrüßungen eines einzelnen Mannes für gefährlich. „Da muss doch ein Mensch dazu verführt werden, sich selbst zu überschätzen, sich für einen Gott zu halten“. „Vater, ich habe gelesen, dass selbst Leute wie der Philosoph Martin Heidegger Mitglied der NSDAP sind und Hitler bewundern.“ „Vielleicht verschaffen sie sich damit Vorteile in Beruf und Gesellschaft“, meint Vater. Ich denke im Stillen, Vater war vor der Machtübernahme durch Hitler ein eifriger Wähler der Zentrumspartei. Das hat ihn geprägt! Er wird nie etwas Gutes an den Nationalsozialisten finden. Aber er muss trotz 

Ja, sind die denn alle hysterisch? Doch wir Jungen stellen eine solche Frage kaum, weil wir selbst in Gefahr sind, mitgerissen zu werden.

Bäuerinnen beim Erntedanktag auf dem Bückeberg begrüßen „ihren“ Führer.



alledem, um seine Stelle als Rendant der Schönauer Spar- und Darlehnskasse nicht zu verlieren, in die Partei (NSDAP) eintreten. So geht es Vielen. Sie alle sollen zu Mitschuldigen gemacht werden. Aber was heißt hier Schuld oder Mitschuld? „Wir sind ein Volk ohne Raum“ heißt es immer wieder „und man wird uns erdrücken, wenn wir uns den fehlenden Raum nicht (im Osten) verschaffen.“ „ Es geht um Sein oder Nichtsein!“ schreit der Führer voller Inbrunst und in einer ihn fast erdrückenden Verantwortung für das Wohl seines geliebten Volkes. Das sieht doch jeder, oder? Wer das Schauspiel „Hamlet“ von Shakespeare kennt, weiß, dass der Dichter mit dieser Frage nach Sein oder Nichtsein die Ungewissheit über ein Leben nach dem Tod gemeint hat. Hitler aber tut so, als ob nur eine der kriegführenden Mächte überleben könne. Wenn dies also ein Überlebenskampf ist, so denke ich, darf man doch gar nicht gegen unseren Staat sein, sondern muss eine innere Auseinandersetzung mit ihm bis nach dem Sieg über die äußeren Feinde  zurückstellen. Aber dann muss man sich vorher in diesem Überlebenskampf aufopfernd bewährt haben. Ich bin aber auch viel zu wenig gebildet, um das alles zu begreifen und richtig einzuschätzen.



Ich versuche, die Faszination des Regimes zu begreifen. Durch ein laufendes Inszenieren von Großveranstaltungen mit Fahnenumzügen, Aufmärschen von Berufsgruppen, Jugendverbänden, Soldaten und selbst hinkenden Kriegsveteranen wird ein schöner Schein geschaffen, der die Macht der Verführung überdeckt, so dass ich nichts Böses erkennen kann. Nur ab und zu komme ich mit manchen Anordnungen, Verboten und vor allem mit dem Beschimpfen der Juden nicht überein. Da gibt es einen Löwen von Münster. Es ist der Kardinal Graf von Galen, der öffentlich gegen einige menschenverachtende Gesetze Front macht. Aber die von der staatlichen Verführung Mitgerissenen hören da kaum noch hin. Das Begeistern durch Aufmärsche und Feiern wird auch gekonnt von einem „Minister für Volksaufklärung und Propaganda“ namens Josef Göbbels geleitet, der altes Brauchtum ausschließlich als Kulisse benutzt, vor der dann die Selbstdarstellung der Nationalsozialisten mit den Auftritten des Führers abläuft. Und so kann Hitler als eine Realität verkünden: „Wo sonst in der Welt gibt es eine solch innere Verbindung von Führer und Volk wie bei uns?“ Natürlich stößt die Massenpsychologie auf die Bereitschaft breiter Schichten der Bevölkerung, der ja der Weg nach draußen in eine freie Welt außerhalb der Reichsgrenzen versperrt ist. Die KdF- Schiffe zum Beispiel  fahren entlang der norwegischen Küste und auch in die Fjorde hinein, legen aber nirgendwo zu einem Landgang an. Wer zu einem Länderspiel nach London oder Madrid will, bekommt nur fünf  Mark Devisen als Taschengeld, so dass sein Aktionsradius vor Ort auf das Fußballstadion begrenzt bleibt oder zumindest bleiben soll.



Kardinal Graf von Galen

Der Volkswagen

Wer Geld übrig hat, spart jetzt für den Erwerb eines Volkswagens, der jetzt KdF-Wagen heißt und der „auf Befehl des Führers“ (wie es heißt) in Wolfsburg gebaut wird. Da sieht man wieder, wie besorgt der Führer für das Wohl und Wehe seines Volkes ist, sollte man glauben. Man erwirbt also Märkchen, die in einer Sparerkarte eingeklebt werden. Auf kurz oder lang wird Deutschland so, auf diese einfache Art, zu einem Volk von Autofahrern geworden sein. Vater ist wiederum gar nicht sehr beeindruckt (oder er tut nur so) und meint, ein Traktor sei ihm lieber. Auch traut er dem Rummel nicht. Ich aber! Denn mit der Zeit sieht man einige wenige KdF-Wagen auf unseren Landstraßen und auf den neuen Reichs-Autobahnen, die 

Sparen für den Erwerb eines KdF-Wagens

voller Stolz „Straßen des Führers“ genannt werden. Bei uns im Dorf gibt es aber nur zwei Opel P4, die an viereckige Kutschen erinnern und mit der modernen Käferform des KdF-Wagens nicht zu vergleichen sind. Doch für die eifrigen VW-Sparer kommt nach einiger Zeit die große Ernüchterung. Denn bald werden sie feststellen, dass sie einen geländegängigen Kübelwagen für die schnellen Feldzüge der Wehrmacht vorfinanziert haben, der zwecks schnellen Überquerens von Flüssen bald in einen Schwimmwagen weiterentwickelt wird. Sie aber werden bis nach dem glorreichen Endsieg vertröstet. Wenn mein Vater später bei irgendeiner Gelegenheit auf den Kauf eines KdF-Wagens zu sprechen kommt, gehe ich ihm verschämt und kleinlaut aus dem Wege.



Der von den Volkswagensparern vorfinanzierte VW- Kübelwagen für die Deutsche Wehrmacht



Der aus dem Kübelwagen weiterentwickelte Schwimmwagen von VW  (jetzt sagt man nicht mehr „KdF-Wagen")



Das Winterhilfswerk

Um aber die Schwierigkeit zu verstehen, sich der geschickt gesteuerten Begeisterung der Massen zu entziehen, muss man auch die im Ergebnis sozial wirkenden Programme sehen. Da gibt es ab September 1933 das WHW (Winterhilfswerk), das die in der Weltwirtschaftskrise entstandene Not infolge Arbeitslosigkeit und Konkursen schnell und für alle sichtbar bekämpfen soll. In den Wintermonaten kommen durch die angeordneten Haus- und Straßensammlungen sowie Abzeichenverkauf schnell erhebliche Summen zusammen. An den sogenannten, ab 1. Oktober 1933 stattfindenden  Eintopfsonntagen darf nur eine einfache Eintopf-Mahlzeit, zum Beispiel eine Gemüsesuppe, gekocht werden, deren Preis pro Kopf nicht über einer halben Reichsmark liegen darf. Mitglieder der NSV (NS-Volkswohlfahrt) und sonstiger Organisationen nehmen die Differenzbeträge zum Preis einer sonst üblichen Sonntags-mahlzeit in den Haushalten entgegen. Da kann sich keiner ausschließen! Bei uns in Schönau werden für diese Haus-sammlungen neben den örtlichen SA-Leuten auch Männer des im Dreiländereck zwischen Schönau, Hümmel und Tondorf im Wald liegenden Reichs-arbeitsdienstlagers eingesetzt. 



"Ein Volk hilft sich selbst" steht auf diesem Plakat. In der Schule wird uns beigebracht, Deutschland müsse vom Ausland unabhängig werden.

Öffentlich veranstaltete Massenspeisungen, an denen auch „unser Führer“ teilnimmt, formen das Bild einer Gemeinschaft von Führer und Volk.

 

Wer wird das später einmal verstehen? 



Patriotische Gedichte im Schullesebuch

 

Ich lese für mein Leben gern schöne Gedichte. In unserem Schullesebuch sind einige besonders lesenswerte Exemplare enthalten. Eines ist von Ferdinand Freiligrath, der sich, wie uns unser Lehrer erzählt, vom Revolutionär und Weggefährten von Karl Marx zum Patrioten bekehrt hatte. Es handelt vom Heldentum der deutschen Reiterei im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Wohlan:

 

Der Trompeter von Gravelotte *                  *)In einem anderen Buch hat er bei Vionville geblasen.

 

Sie haben Tod und Verderben gespien:

Wir haben es nicht gelitten.

Zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterien,

wir haben sie niedergeritten.

 

Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,

tief die Lanzen und hoch die Fahnen,

so haben wir sie zusammengesprengt,-

Kürassiere wir und Ulanen.

 

Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt;

wohl wichen sie unseren Hieben.

Doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt,

unser zweiter Mann ist geblieben.

 

Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft,

so lagen sie bleich auf dem Rasen,

in der Kraft, in der Jugend dahingerafft,-

nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!

 

Und er nahm die Trompet‘, und er hauchte hinein;

da,- die mutig mit schmetterndem Grimme

uns geführt in den herrlichen Kampf hinein,

der Trompete versagte die Stimme.

 

Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz,

entquoll dem metallenen Munde;

eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz,-

um die Toten klagte die Wunde!

 

Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein,

um die Brüder, die heute gefallen,-

um sie alle, es ging uns durch Mark und Bein,

erhub sie gebrochenes Lallen.

 

Und nun kam die Nacht und wir ritten hindann,

ringsum die Wachtfeuer lohten;

die Rosse schnoben, der Regen rann,-

und wie dachten der Toten, der Toten!

 

Das Gedicht gefällt mir, jetzt im Jungenalter, besonders gut, weil die Kürassiere der schweren Reiterei, wie mein Vater erklärt, in der Deutzer Kaserne in Köln ihre Garnison hatten. Die Rekruten kamen oft aus der Eifeler Landwirtschaft. Obwohl wir das Gedicht nicht lernen müssen, kann ich es auswendig hersagen.

Für die späteren jungen Leser wird es schwer zu verstehen sein, mit welcher Ehrfurcht wir heute derartig  patriotische Gedichte, Lieder und Kriegsberichte lesen und in uns aufnehmen. Aber wir alle, ob jung ob alt, werden Tag für Tag propagandistisch auf einen neuen Waffengang vorbereitet. Allein schon die Begriffe, wie herrlicher Kampf und Wacht am Rhein, sind geeignet, in uns Jugendlichen den Krieg als eine Art Männerromantik aufzufassen. Es gibt heute, so wie damals in den Befreiungskriegen, so etwas wie eine Todessehnsucht der Deutschen im Dienst für Volk und Vaterland.

Nach dem Sieg der Deutschen im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 änderte sich auch in der Eifel die allgemeine Volksmeinung. Jetzt erst wurden die letzten Napoleonbilder abgehängt und durch Bilder vom Deutschen Kaiser Wilhelm I. ersetzt.

 

Da unser Vater in den letzten Kriegsjahren des 1918 zu Ende gegangenen (Ersten) Weltkrieges als Vorderreiter bei der bespannten oder berittenen Artillerie gedient hatte, ist er auch jetzt noch ein Pferdenarr. Die Kameradschaft von Reiter und Pferd sitzt ihm für immer  in den Knochen und er weiß sie uns in romantischen Bildern zu schildern. Das hat sich auch auf mich übertragen und  zu noch recht undeutlichen Vorstellungen von einem Krieg voller Männerromantik geführt. Genährt werden diese Jungenträume von Liedern, die auf den Rücken der Pferde zu singen sind. Ein Beispiel:

 

Wohlauf Kameraden aufs Pferd, aufs Pferd,

ins Feld, in die Freiheit gezogen.

Im Felde da ist noch der Mann etwas wert,

da wird ihm das Herze gewogen.

Da tritt kein andrer für ihn ein.

Auf sich selber steht er da ganz allein.

 

Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist,

man sieht nur noch Herren und Knechte.

Die Falschheit herrschet, die Hinterlist,

bei dem feigen Menschengeschlechte.

Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,

der Soldat allein ist der freie Mann.

 

Wenn ich aber an das tägliche Küheputzen denke und diesen unschönen Gedanken auf das Soldatenleben bei der Kavallerie oder bespannten Artillerie mit dem zum täglichen Drill gehörenden Putzen der Pferde übertrage, springt mein Träumen vom Pferderücken auf den Pilotensitz in einem Flugzeug über. Und diesen Traum werde ich bis zur späteren Einberufung zum fliegenden Personal der Deutschen Luftwaffe im Sommer 1944 beibehalten.