Kaum zu glauben. So reisen wir 1954 nach Mallorca

Vorwort

Mit zunehmendem Alter wird einem rückschauend bewusst, welche enormen positiven Entwicklungen wir durchlebt haben. Aber wenn man gefragt wird: "Wie war es denn damals?", dann scheint dieses "Damals" im Nebel des Vergessens für immer zu verschwinden. Und die heute aktiven Generationen schmücken selbst ihre Berichte in Medien, Literatur und Filmen mit den abstrusesten Vorstellungen über die damalige Zeit. Es ist deshalb gut, wenn man hin und wieder auf authentische Schilderungen und Fotos zurückgreifen kann. Dies hier ist der Versuch einer solchen Schilderung.

Es beginnt mit der Bahnfahrt von Köln nach Barcelona

Vor etwa 5 Minuten hat der Zug die belgisch-französische Grenze passiert. Die Zollbeamten haben nach der recht peniblen Kontrolle unseres Gepäcks unser Abteil verlassen und sind zum nächsten Wagen schnüffelnd weitergegangen. Es ist kurz nach Mittag an diesem leicht diesigen 10. Mai 1954. Ich schaue aus dem Fenster und beobachte neidisch eine Nebelkrähe, die scheinbar problemlos die Grenze  überflogen hat. Es ist Brutzeit und vielleicht sitzt das Weibchen brütend diesseits der Grenze in Frankreich, während ihr in Dauerehe lebender Gatte für sie jenseits der Grenze, also in Belgien, Futter besorgte. Ja, so leicht müsste der Grenzübertritt auch für uns Menschen sein, denke ich. Doch das ist wohl für alle Zeiten undenkbar; oder gibt es eines Tages eine EU und ein  Schengener Abkommen als internationales Übereinkommen zur Abschaffung der stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der teilnehmenden Staaten?

Wir haben den Kölner Hauptbahnhof in den frühen Morgenstunden mit dem in Richtung Brüssel fahrenden Zug verlassen, sind in Lüttich in diesen Zug hier umgestiegen, der uns in einigen Stunden zum Gare du Nord (Nordbahnhof) in Paris bringen wird. Wie es weitergeht erfahren wir später. Doch, wie sind wir überhaupt bis hierhin gelangt? Wir, das sind meine junge hübsche Braut Gisela Rath, die zukünftigen Schwiegereltern, nennen wir sie Mutter und Vater (diese Anrede wurde mir, wie im Jahr 1954 allgemein üblich, während der Verlobungsfeier angeboten und natürlich von mir dankend akzeptiert), und ich.

Vater, ein kölnbekannter Briefmarkenhändler, hatte von einem seiner Kunden im letzten Jahr erfahren, die belgische Reisegesellschaft „Les hirondelles(die Schwalben) aus Brüssel sei bereit, unter gewissen Voraussetzungen auch deutsche  Interessenten in ihr Mallorca-Reiseprogramm aufzunehmen, zumal die deutschen Reiseunternehmen in punkto Auslandsreisen noch recht zurückhaltend sind. In Köln habe sich eine Gruppe dieser Interessenten gebildet, die sich in einem Hotel in Hauptbahnhofnähe monatlich treffe. Dort könne man von jungen Leuten, die in den letzten Monaten dieses Angebot in Anspruch genommen hätten, interessante Details der Reisevorbereitung erfahren und tolle Erlebnisberichte zu hören bekommen. Also gingen wir hin und wurden von deren Schilderungen hellauf begeistert. Wir erfuhren u.a., man müsse sich selbst bis zum Pariser Bahnhof Gare d’Austerlitz (früher Gare d’Orléans) der SNCF (Société nationale des  chemine de fer) auf dem linken Seine-Ufer sorgen. Dort werde man von der auch deutschsprachigen  belgischen Reiseleitung in deren Reisegruppe aufgenommen.

Als der Zug das Stadtgebiet von Paris erreicht, erblicke ich die auf einem Hügel stehende Kirche und sage bewundernd: „Oh, Sacré coeur!“ und ein neben mir stehender Franzose sagt: „Oui, Montmartre.“  Tolle Unterhaltung! 

Nach dem Aussteigen im Gare du Nord fahren wir mit der Pariser Untergrundbahn (Métro) zum Gare d’Austerlitz auf der linken Seine-Seite, wo uns eine hübsche belgische Reiseleiterin bereits erwartet. Ein üppiges Abendessen, dessen Beschreibung in französischer Sprache uns Sprachunkundige nicht erkennen lässt, dass es vier- oder gar fünfgängig ist, verführt uns dazu, bei den ersten Gängen allzu oft nachzufassen.  Wir schleppen uns anschließend überfüttert und entsprechend durstig in den langen Barcelona-Express und es beginnt die Bahnfahrt durch die Nacht in südlicher Richtung. Als der Durst zunimmt, schickt Vater seine Tochter und mich auf die Suche nach dem Speisewagen zwecks Kaufs von Getränken. Auf dem Weg dorthin passieren wir offen stehende Abteile, wo heimreisende Gastarbeiter auf dem Boden sitzend ihre Fußbinden aufwickeln und sich von uns gestört fühlen. Nach mehrmaligem Hin und Her erreichen wir dann doch den Speisewagen, der just in diesem Moment für den Rest der Nacht schließt. Fast verdurstend kehren wir zu unserem Abteil zurück. Dann, irgendwann in der zweiten Nachthälfte hält der Zug im Bahnhof von Lyon. Gott sei Dank!

Übrigens: Die französische Bahn SNCF unterhält eine eigene gute Hotelkette namens PLM (Paris-Lyon-Méditerranée, oder im Volksmund Pour l'amour). Viel später, in der Karwoche des Jahres 1980, werden wir im PLM-Hotel in Marrakesch / Marokko Quartier beziehen. Nun zurück zur Gegenwart:

Ein Getränkeverkäufer steht auf dem Bahnsteig und bietet seine Waren an. Vater kauft überglücklich mehrere Flaschen Wasser und bezahlt sie zum zehnfachen Preis, weil er noch die belgische Währung im Kopf hat. Dabei hatte der Verkäufer vergeblich versucht, den angemessenen Betrag zu akzeptieren. Als Vater, ins Abteil zurückgekehrt, den Irrtum bemerkt und dies erläutert, bricht meine Braut in Tränen aus. Mit einem spürbaren Ruck setzt der Zug zur Weiterfahrt nach Süden an und in dem Gemisch von Akzeptanz und Ärger kippen die auf dem Boden stehenden offenen Flaschen um und es bleibt nur ein kleiner Rest zum Trinken übrig. In der Morgendämmerung erblicke ich erstmals in meinem Leben das Meer und nicht viel später erreicht der Zug den Bahnhof Cerbère kurz vor der französisch-spanischen Grenze. Hier in Cerbère enden die Breitspurgleise der von Süden kommenden spanischen Eisenbahn, während die Gleise der französischen Normalspurbahn parallel hierzu bis zum spanischen Bahnhof Portbou weiterführen und erst dort enden. Wo wir nun genau auf dieser Strecke umsteigen ist mir vollkommen egal. Wichtig ist nur dies: Im spanischen Zug wartet ein Speisewagen mit gutem Essen und sehnlich erwarteten Getränken auf uns und wir können die Fahrt bis Barcelona genießen

Nun sind wir in Barcelona

La Sagrada Familia in Barcelona, im Jahr 1954 eine ruhende Baustelle, weil angeblich Gaudis Baupläne, nachdem er tödlich verunglückte, verloren gingen.
Das Bild spricht für sich: Rien ne va plus.
Vogelhändler im Hafenviertel von Barcelona

Barcelona kommt mir vor wie eine Millionenstadt, die darauf wartet, Weltstadtflair zu bekommen. Ein Vogelhändler ist dafür etwas mager. Und was geschieht am späten Nachmittag? 

Um 18 Uhr erklingt vom Castell de Montjuic ein Trompetensignal und alle Soldaten im Hafenviertel salutieren in Richtung dieser Festung. Wir merken also, dass Spanien noch von einem Generalissimo namens Francisco Franco regiert wird. Die Demokratie steht noch draußen vor der Tür.

Und nun sind wir "auf See"

Auf der Fähre von Barcelona nach Palma de Mallorca

Kurz vor der Abenddämmerung betreten wir die im Hafen von Barcelona geduldig wartende alte Fähre nach Palma de Mallorca, speisen auf dieser zu Abend und trinken den servierten Tischwein. Dann gehen wir nochmals an die frische (See-)Luft. Inzwischen beginnt man, die Teppiche und Läufer einzurollen und zu entfernen. Was soll das? Den Grund erkennen wir, als das Licht an der Hafenausfahrt von Barcelona wegen der zunehmenden Dunkelheit eingeschaltet wird und, fast am Horizont verschwindend,  unverzüglich mit einem unruhigen Auf und Ab darauf aufmerksam macht, dass unser Schiff in einen unruhigen Seegang hineingesteuert wird. Der „Kahn“ ist relativ kurz, so dass die Wellenbewegungen besonders ausgeprägt spürbar werden. Das Beseitigen der Teppiche und Läufer lässt darauf schließen, dass mit einem „Fischefüttern“ durch Passagiere mit empfindsamen Mägen mit Sicherheit gerechnet wird. Wohlgemerkt: Diese Fähre hat nicht den Komfort späterer Kreuzfahrtschiffe. So gibt es auch keine Kabinen, sondern nur Schlafsäle. Die männlichen Passagiere haben, bitte schön, den Großraum im Bug des Schiffes aufzusuchen und sich dort auf die mehrstufigen Pritschen zu begeben. Da auch ich ein sonderbares Rumoren im Magen bemerke, passe ich das Ein- und Ausatmen dem Auf und Ab des Bugs an und bilde mir erfolgreich ein, das würde helfen. Mit diesen unsinnigen Gedanken schlafe ich dann tatsächlich ein. Als ich am frühen Morgen zur Gemeinschaftstoilette gehe, sehe ich den Topf mal tiefer und mal höher, greife ihn mit beiden Händen und ziehe mich mit etwas Gewaltanwendung zu ihm hin. Geschafft! Nach dieser erfolgreichen Prozedur gehe ich an Deck, wo mir mehrere Passagiere mit Kotzkümpchen und eindeutigen Geräuschen begegnen.  

Wir nähern uns der Insel Mallorca

Als wir uns der Insel Mallorca bis auf Sichtweite nähern, beruhigt sich die See und in unseren Mägen und Gesichtern macht sich wieder Zuversicht breit.

Entlang der Küste Mallorcas
Palma de Mallorca, ein (noch) ruhiger Hafen

Und wieder eine Bahnfahrt

Fahrt mit der von Siemens-Schuckert gebauten Bahn von Palma de Mallorca nach Sóller

Kaum sind wir nach der 11-stündigen Schiffsreise in Palma an Land gegangen, werden wir von einem rührigen deutschsprachigen Herrn von der Stadtverwaltung Sóllers empfangen und steigen in seiner Begleitung in den Zug nach Sóller ein. Dieser junge Begleiter, sein Name ist Jaime Garau, wird von der Stadtverwaltung zur Betreuung von insgesamt nur 6 Deutschen abgestellt, um auf diese Weise für einen gerade erst keimenden Mallorcatourismus in Deutschland zu werben.

Gebirge zwischen Palma und Sóller
"Bitte aussteigen und fotografieren! Dort unten liegt Sóller im Tal des ewigen Frühlings."

In unserem Urlaubsort Sóller

Als wir in Sóller angekommen sind und zur ersten wirklichen Rast auf Stühlen Platz nehmen, haben wir nach dieser langen Reise ab Köln das Gefühl, unsere Oberkörper würden wie auf der Bahn- und Schiffsreise hin- und herschaukeln.

Im Garten des Hotels "Ferrocaril" (Hotel Eisenbahn) in Sóller mit Senjor (mallorquinische Schreibweise) Garau und Braut ganz rechts im Bild. In diesem Hotel verbringen wir unseren Urlaub.

Die Mantilla gehört zur sonntäglichen Kleidung beim Kirchgang. Meine Braut Gisela Rath hat dieses Foto bei einem Fotographen aufnehmen lassen. Danach hängt es werbewirksam im Schaufenster seines Geschäftes im Zentrum von Sóller.

Ausflüge auf Mallorca

Unsere aus Belgiern, Franzosen, Holländern und Deutschen bestehende Reisegesellschaft von Les hirondelles de Bruxelles. Eine recht große Gruppe. Aber davor, dahinter und zu beiden Seiten: Menschenleere Natur!
Olivenbaum, gewachsen in biblischer Zeit, im Laufe seiner Existenz immer wieder halb verdorrt und zu neuem Überleben zurückgekehrt.

Im maurischen Dorf Fornalutx

Natürlich sind die heutigen Einwohner keine Mauren, aber die Bauweise erinnert noch immer an die Zeit, als sie den Ort hier nordöstlich von Sóller im Tramuntanagebirge anlegten.

Puerto de Sóller (auf mallorquinisch Port de Sóller)

Der Ort ist noch in der Entwicklung. Wir werden hier immer wieder von Landverkäufern angesprochen, die eine positive Entwicklung der Bodenpreise versprechen. Zur Zeit gibt es neben den Wohnhäusern im wesentlichen ein größeres Hotel mit Räumen für Folkloreveranstaltungen und eine große Kaserne mit der weithin sichtbaren Beschriftung "Todos por la Patria", die u.a. als U-Boot-Stützpunkt genutzt wird.

Eine im Jahr 1913 eingeweihte elektrische Straßenbahn (Trambahn) zwischen Sóller und Puerto de Sóller dient sowohl dem Personenverkehr (wir benutzen sie mehrmals) als auch dem Fischtransport in Kühlwaggons vom Hafen in die Stadt. Angeblich werden nachts auch Minen und Torpedos zum Marinestützpunkt transportiert. Aber davon habe ich nichts bemerkt.

Ausflug per Boot nach La Calobra (mallorquinisch Sa Calobra)

Ausfahrt mit dem Boot aus dem Hafen Puerto de Sóller
Wir fahren entlang der Felsenküste des Tramuntanagebirges.
In La Calobra bauen spanische Soldaten eine Anlegestelle
Hier fließt der Torrent de Pareis ins Meer. (Torrent= Sturzbach)
Vor der Rückfahrt in La Calobra. Was für eine Menschenleere und himmliche Ruhe!

Diese Ruhe und Einsamkeit erleben und genießen wir auch an anderen Orten der Insel Mallorca,

wie hier in Camp de Mar,
oder an der Küstenstraße bem Künstlerdorf Deià,
oder hier am Strand von Porto Christo, wo ein Dudelsackpfeifer Touristen anlocken will,
oder hier, wo eine wunderbare Harmonie von Mensch und Landschaft besteht,
oder in den arabischen Gärten von Alfábia. Übrigens: Wie kleidet man sich in einem Urlaub unter südlicher Sonne? Wer würde in späteren Jahrzehnten noch an allen Urlaubstagen mit einer Krawatte herumlaufen?
oder in dieser einsamen Straße im Zentrum von Valldemossa.
und das ist die Ruhe in Vollendung: Siesta in Porto Christo!

Die Rückreise

Von Palma de Mallorca nach Barcelona: Rückflug statt "Schiffschaukel"

Während unseres Aufenthaltes in Sóller sehen wir zweimal täglich und zwar morgens und nachmittags pünktlich zur selben Uhrzeit, ein Flugzeug älterer Bauart eine Kurve drehen und dann in nordnordwestlicher Richtung davonfliegen. Da keimt bei uns der Gedanke auf, ein Flug nach Barcelona mit dieser Maschine sei doch weit ruhiger und komfortabler als ein elfstündiges Geschaukel über eine unruhige See. Also wird die Schiffsreise storniert und der Flug für die Morgenmaschine gebucht. 

Ist das nicht ein unrealistisch wirkendes Foto für die Mallorcareisenden kommender Jahrzehnte, wenn die modernen großen Jets im Fünfminutentakt starten und landen werden? Doch dies hier ist jetzt im Jahr 1954 die einzige Morgenmaschine nach Barcelona.

Die Bahnfahrt von Barcelona nach Köln unterbrechen wir je einmal in Frankreich (Paris) und Belgien. Doch ein Bericht hierüber würde nicht in den Rahmen passen, der mit der Bemerkung am Anfang dieses Urlaubsberichtes gekennzeichnet ist, die da lautet: Kaum zu glauben.