Bild oben: Veri (rechts) beim Einbringen des Getreides

Reifen und wachsender Widerstand

Einbringen des Getreides

Sommerhitze,

Donner, Blitze.

Schwere Wetter dunkel droh‘n.

 

Himmelsbräune *                              *) Eine Besonderheit des Wetters in der

                                                           Eifel: Im Sommer

mahnt: Zur Scheune!                             färbt sich der Himmel mitunter tief

                                                            braun. Vater nennt

Dicke Tropfen fallen schon.                     dies Augustbraun (im Dialekt: Ausbrong).

 

Pferde, Ochsen

in die Boxen

und Getreide unters Dach.

 

So, - und ähnlich

kommt’s gewöhnlich

trocken ‘rein mit Ach und Krach.

 

 

Ja, es ist schon wieder Sommer geworden. Und obwohl sich die Söhne und jungen Väter des Dorfes uniformiert irgendwo in Deutschland oder in den von uns besetzten Gebieten herumtreiben müssen, geht das Dorfleben, unterstützt von Kriegsgefangenen, sogenannten Fremdarbeitern und uns Kindern seinen gewohnten Gang.

 

Kein Mensch ahnt, dass sich an der Ostgrenze des deutschen Machtbereiches, zu dem ja auch der Generalgouvernement genannte Westteil des ehemaligen Polens zählt, der Aufmarsch einer gewaltigen Streitmacht vollzieht. Deutsche, ungarische, finnische, rumänische und slowakische Einheiten beziehen in aller Stille ihre Ausgangspositionen für das Unternehmen Barbarossa, den Angriff auf die Sowjetunion.

 

Im Westdeutschen Beobachter und in den Sendungen des Großdeutschen Rundfunks wird hin und wieder vom sogenannten Ostwall gesprochen, den es gar nicht gibt. Dieser nicht zutreffende Begriff soll aller Welt vorgaukeln, die Ostgrenze solle durch eine reine Verteidigungsanlage lediglich gegen Angriffe von außen geschützt werden. Und dann, am 22. Juni 1941, kommt der große Knall:

 

Das Unternehmen Barbarossa.



Sommer 1941

Der Krieg macht mir keinen „Spaß“ mehr.     

Gestern war Sommeranfang. Heute, in der Frühe eines Sonntagmorgens, liege ich wach im Bett und gehe meinen Gedanken nach. Da weder Schule noch Feldarbeit auf mich warten, habe ich etwas Zeit, über den sonderbaren Verlauf des Krieges nachzudenken. Vor etwa einem Jahr vollzog sich, hier im Dorf für mich sichtbar, der Aufmarsch des modernen deutschen Westheeres zu einem von starken Panzerverbänden vorgetragenem Blitzkrieg, der nach 6 Wochen siegreich beendet werden konnte. In diesem Jahr wurden in einem weiteren Blitzkrieg die Balkanstaaten Jugoslawien und Griechenland erobert. Aber das waren Länder, die, für mich völlig überraschend, über Nacht zu Gegnern erklärt wurden. Dies geschah zwar nicht aus deutschem Übermut, sondern vielmehr durch die Machtgelüste Mussolinis von Italien, der vermutlich den Deutschen nacheifern wollte und seine Truppen im Oktober 1940 von Albanien (damals von Italien besetzt) aus in Griechenland einmarschieren ließ, dann aber im Frühjahr 1941 von den Griechen zurückgeschlagen wurde. Diese erhielten von den Engländern jetzt militärische Unterstützung. Zu allem Überfluss war es im benachbarten Jugoslawien zu einem von Großbritannien eingefädelten Putsch gegen die deutschfreundliche Regierung gekommen. Beide Ereignisse zusammen stellten eine erhebliche Gefahr für die deutschen Interessen auf dem Balkan dar, vor allem, was die Sicherheit der für      

Deutschlands Kriegsführung lebenswichtigen rumänischen Ölfelder anbelangte (Rumänien hatte sich nach der erzwungenen Abtretung Bessarabiens an die Sowjetunion unter deutschen militärischen Schutz gestellt). Und so begann am 6. April 1941 der Angriff der deutschen Wehrmacht und italienischer Verbände auf Jugoslawien und Griechenland. Es folgte wieder, diesmal von Fanfarenklängen nach der Melodie „Prinz Eugen der edle Ritter“ angekündigt, Sondermeldung auf Sondermeldung, bis am 21. April 1941 nach den Jugoslawen auch die Griechen kapitulierten. Die verlustreiche Eroberung der Insel Kreta ab Anfang Juni 1941 durch deutsche Fallschirmjägereinheiten diente abschließend der Vertreibung der dort stationierten Briten. Aber wie gesagt, dieser sogenannte Balkanfeldzug war für mich völlig überraschend gewesen.

 



DeutscheSoldaten vor der Akropolis von Athen

Doch was war aus der Landung in England geworden? Hin und wieder sickerten Berichte von Angehörigen unserer Luftwaffe durch, wonach uns die britische Royal Air Force in Luftkämpfen empfindliche Verluste an Bombern und Jagdflugzeugen zugefügt hatte. Also Zeit für Frieden? Ja, Frieden. Da kommt Mutter die Treppe hochgelaufen. Langsames  Treppensteigen gelang ihr nie. Aber diesmal hört es sich besonders eilig an. „Mein Junge, soeben wurde im Radio durchgegeben, daß wir Krieg mit Rußland haben.“ „Dann werden wir den Krieg verlieren“ sage ich spontan.

 

Ich trete ans Schlafzimmerfenster und schaue nach draußen. Trotz der Sommerwärme ist der Himmel bedeckt. Ich öffne das Fenster. Die hohe Luftfeuchtigkeit  erzeugt eine bleierne und drückende Atmosphäre, die das Atmen erschwert. Wie oft habe ich nach den sogenannten Führerreden unten im Erdgeschoß auch durchs Fenster nach draußen geblickt. Es war dann dunkel gewesen und dem Spektakel von Hitlers Gebrüll und dem von Pauken unterstützten Beifall folgte Beethovens Schicksals-sinfonie. Dann bat ich die Eltern, noch etwas aufbleiben zu dürfen „um mich zu beruhigen“. Zwischen den einzelnen Sätzen der fünften Sinfonie lauschte ich durchs Fenster nach draußen. Dann empfand ich diese absolute Stille der Nacht dort draußen fast wie körperlichen Schmerz. Und ich glaubte zu spüren, wie die vom Großdeutaschen Rundfunk

 ausgestrahlte Rede mit ihren Drohungen und Beschimpfungen sich auf gefährlichen Schwingen durch die Dunkelheit in die Weite unserer Erde fortpflanzte. Seither empfinde ich diese Musik ähnlich und es drängen sich mir dann Bilder auf von den Weiten Rußlands mit Staub, Schlamm und Schnee, von den Meeren und Ozeanen, von den Wüsten Nordafrikas und von den Gespielen meiner Jugend, die irgendwo in diesen Weiten geblieben sind und nie mehr zurückkehren.

Banges Hoffen        

Nun läuten die Glocken unserer kleinen Dorfkirche, die gerade wegen ihrer Kleinheit und Einfachheit etwas Verbindendes hat. Hier im Turm der Kirche hat man begonnen, die Bilder der Gefallenen unserer Gemeinde anzubringen. Noch hängt nur ein Bild dort, aber bald wird der Platz kaum noch ausreichen. Da werden Familien zwei, drei oder vier gefallene Söhne zu beklagen haben und ihre Bilder werden dort hängen. Ja, Rußland. Das ist ein anderer Gegner, ein Gegner, der gegen unseren „Vernichtungskrieg“ Widerstand leisten wird. Und die kleinen Eifelgemeinden werden einen hohen Blutzoll zu entrichten haben, denn wegen der ertragsschwachen Landwirtschaft hier in den Bergen wird keiner vom Wehrdienst freigestellt.

Und in die Liturgie der Sonntagsmessen wird man einflechten: „Und nun beten wir für unsere Vermißten und Gefallenen“. Den Postboten werden die Ehefrauen und Mütter fortan mit Bangen und Hoffen vor ihren Haustüren erwarten. Es hat heute begonnen, an diesem diesigen, schwülwarmen Sonntag, dem 22. Juni 1941.

 

Eine Woche voller Ungewissheit

Vom Beginn des Angriffs auf Russland an, bis zum darauf folgenden Sonntag wird in den Wehrmachtsberichten nicht eine einzige Angabe zum Stand der Offensive gemacht, sondern es heißt lapidar, aus Gründen der Geheimhaltung werde zunächst Stillschweigen bewahrt, um die Orientierungslosigkeit der Roten Armee aufrecht zu erhalten. Und dann wird am Sonntag, dem 29. Juni 1941 den ganzen Tag über Sondermeldung auf Sondermeldung gesendet. Zwischen den so genannten Märschen aus Deutschlands großer Zeit ertönen plötzlich kraftvolle Fanfarenklänge mit einer Melodie aus Les Préludes von Franz Liszt. In dieser musikalischen Dichtung sieht Liszt die Phasen des Lebens als Vorspiele (préludes, Präludium, Auftakt) zur Melodie des Todes. Gnade uns Gott! denke ich. Dann folgt die Sondermeldung, gefolgt von einem neuen, aus Männerstimmen zackig vorgetragenem  Lied:

Wir standen für Deutschland auf Posten

Und hielten die große Wacht.

Nun hebt sich die Sonne im Osten

Und ruft die Millionen zur Schlacht.

Refrain:

Von Finnland bis zum Schwarzen Meer:

Vorwärts, vorwärts!

Vorwärts nach Osten du stürmend’ Heer!

Freiheit das Ziel, Sieg das Panier!

Führer befiehl! Wir folgen dir.

 

Der Marsch von Horst Wessel begonnen

Im braunen Gewand der SA

Vollenden die grauen Kolonnen:

Die große Stunde ist da.

Refrain:

 

Nun brausen nach Osten die Heere

Ins russische Land hinein.

Kameraden an die Gewehre!

Der Sieg wird unser sein.

Refrain:

 

Vater sagt: „Das ist Hitlers persönlicher Krieg. Ich glaube, es wird ein unsauberer Krieg ohne Gnade und mit vielen Toten auf beiden Seiten. Er basiert auf einer wahnsinnigen Fehleinschätzung der russischen Trümpfe, wie dem weiten Raum, den harten Wintern und der Entschlossenheit der Russen, ihre Heimat zu verteidigen.“



 

Deutsche Panzerverbände auf dem Vormarsch in den Weiten Rußlands   Und bis wohin soll’s gehen?   

(Foto aus dem Buch „Unternehmen Barbarossa, Verlag Ullstein GmbH)



Im Spätherbst

desselben Jahres gelingen „dem Führer“, mittlerweile auch scherzhaft „Gröfaz“ (größter Feldherr aller Zeiten) genannt, einige weitere Fehleinschätzungen. Als am 05. Dezember 1941 die Rote Armee an der Kalininfront zu ihrer ersten Gegenoffensive antritt, verbietet Hitler höchstpersönlich das von der deutschen Generalität vorgeschlagene flexible Reagieren und befiehlt ein „Halten um jeden Preis“, also ein Einzementieren der Front, dort, wo sie gerade steht, wodurch voraussehbare und vermeidbare Einschließungen deutscher Verbände  entstehen. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, daß Hitler, auch höchstpersönlich, die Ausgabe von Winterbekleidung an die Soldaten der Ostfront verboten hat, damit diese ein höchstes Interesse an der siegreichen Beendigung des „Unternehmens Barbarossa“, so der Name der Deutschen Offensive, noch vor dem Wintereinbruch haben.

Auch Krieg mit Amerika         

Am 07. Dezember beginnt Japan mit dem Überraschungsangriff auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbour auf Hawaii den Krieg gegen die USA. Da sich Japan und die Sowjetunion in einem Geheimabkommen gegenseitige Neutralität versichern, nutzt die Sowjetunion dies mit einer Verlagerung ihrer für den Wintereinsatz gut ausgerüsteten sibirischen Einheiten nach Westen zum Einsatz gegen die Deutschen, die sich zu Tausenden in den Sommerstiefeln erfrorene Füße holen. (Dafür stiftet Hitler den „Gefrierfleischorden“.)

Hitler glaubt den Zeitpunkt für die Kriegserklärung an die USA für gekommen; sie wird in Verkennung des eigenen und amerikanischen Kräfteverhältnisses prompt am  11. Dezember 1941 großmäulig verkündet. Ab diesem Datum glaubt Churchill fest daran, den Krieg gemeinsam mit Amerika zu gewinnen.

Und für Deutschland beginnt jetzt endgültig der beschwerliche Weg in den Untergang.

 



A-A-Linie

Und das ist also der wirkliche Grund für das Unternehmen Barbarossa, den Angriff auf die Sowjetunion: Nicht eine Bedrohung durch die Sowjetunion, sondern die Schaffung von SIEDLUNGSRAUM IM OSTEN, zunächst bis zur sogenannten A-A-Linie, die von Archangelsk am Weißen Meer bis Astrachan am Kaspischen Meer verläuft und in einem späteren Krieg bis in die Weiten Russlands gemäß obiger Karte. Aber das weiß nur die oberste Führung, obwohl man eigentlich nur Hitlers "Mein Kampf" lesen muss, um diesen Schwachsinn  zumindest zu erahnen.

Und dann steht dieses Gedicht im Schul-Lesebuch:

|: Nach Ostland geht unser Ritt; :|
   Hoch wehet das Banner im Winde,
   Die Rosse, sie traben geschwinde,
   Auf, Brüder, die Kräfte gespannt;
   Wir reiten in neues Land.
  |: Hinweg mit Sorge und Gram! :|
   Hinaus aus der Enge und Schwüle!
   Die Winde umwehen uns kühle,
   In den Adern hämmert das Blut,
   Wir traben mit frohem Mut.

 

|: Laut brauset droben der Sturm, :|
   Wir reiten trotz Jammer und Klage,
   Wir reiten bei Nacht und bei Tage,
   Ein Haufen zusammengeschart:
   Nach Ostland geht unsere Fahrt.

 



Bis wohin wollen wir eigentlich im Osten?             

Meine Schulzeit neigt sich dem Ende zu. Ich bin jetzt im 8. Schuljahr unserer Volksschule und im Vergleich zu meiner jungenhaft romantischen Einstellung zu Krieg und Soldatenleben bei Kriegsbeginn doch wesentlich kritischer geworden. Da ich gerne in meinem Schulatlas herumblättere, habe ich eine Vorstellung von der Größe der Sowjetunion und ich versuche, mir krampfhaft und ziemlich erfolglos vorzustellen, wie wir ein solches Land besiegen und besetzt halten können. „Napoleons Zug nach Rußland“ ist einer der Aufsätze, die ich mir aufbewahrt habe. Damals gehörte das Rheinland links des Rheines, also auch die Eifel, zu Frankreich. In diesem furchtbaren Rückzugswinter starben und erfroren also auch viele Rheinländer, die in den Armeen Napoleons als reguläre Soldaten Dienst taten. Von diesem Aderlaß hatte sich das kaiserliche Heer nie mehr erholt. Und nun versucht es Hitler ebenfalls, der in einer seiner Reden prahlt: „Wo der deutsche Soldat steht, da steht er und wird nicht mehr weichen.“  Aber mittlerweile „steht“ der deutsche Soldat als Besatzer eroberter Gebiete vom Nordkap in Norwegen über Jugoslawien und Griechenland bis zur libyschen Wüste in Nordafrika und von der Atlantikküste in Frankreich bis zum Bug in Polen. Und nun soll dieser Besatzungsraum nach Osten bis in die unvorstellbaren Weiten der asiatischen Steppe hinausgeschoben werden. Ich lese gerade das Buch „Das vergessene Dorf“ von Theodor Kröger, das von deutschen Kriegsgefangenen in Rußland im 1. Weltkrieg handelt und in dem die Verlassenheit und Weite Sibiriens sehr eindrucksvoll und beängstigend geschildert wird. Da bekomme ich schon eine Gänsehaut. Und langsam keimt in mir eine Vorahnung, daß ich in ein paar Jahren selber als aktiver Soldat in die Kriegshandlungen hineingezogen werde.

Nochmals zurück zum Beginn des Ostfeldzuges. Nach Beginn des Rußlandfeldzuges, Unternehmen Barbarossa genannt, verhängt das Oberkommando der Wehrmacht eine ganze Woche lang eine totale Nachrichtensperre über die Frontlage, angeblich, um die Verwirrung und Kopflosigkeit des Gegners noch zu verstärken. Am nächsten Sonntag werden dann den ganzen Tag über „gesammelte“ Sondermeldungen im Rundfunk durch Fanfaren und einem musikalischen Satz aus De prélude von Franz Liszt angekündigt und gesendet. Eine dieser Sondermeldungen verkündet die Einnahme der Festung Brest-Litowsk. Ich suche auf der Karte und finde diese Stadt direkt hinter der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie. Das war also sicher ein zäher und harter Kampf. Und die ersten Gefallenenmeldungen im Dorf lassen nicht lange auf sich warten. Aber dann gelingt den Deutschen doch wieder ein Blitzkrieg mit gewaltigen Kesselschlachten und einer unübersehbaren Anzahl sowjetischer Gefangener. Ich schwanke jetzt zwischen Siegeszuversicht und der Angst vor der Weite dieses Landes.



Marschall Tuchatschewski wurde von Stalin liquidiert          

Zunächst: Die Rote Armee ist kopflos.     

Später, nach dem Krieg, wird man erfahren, warum es uns gelingt, zeitweise solche Verwirrung und Ratlosigkeit bei den Russen zu stiften. Die „Roten Armee“ ist im wahrsten Sinne des Wortes kopflos. Sie ist vor einigen Jahren kopflos geworden durch die von Stalin angeordnete Liquidierung der meisten Generäle. Wie konnte das geschehen? Nach dem Ersten Weltkrieg gelang es dem russischen Marschal Tuchaschewski den inzwischen an die Spitze der Sowjetmacht gelangten Stalin davon zu überzeugen, daß Rußland und Deutschland als die einzigen Verlierer des Krieges trotz aller weltanschaulichen Unterschiede vorerst zusammenarbeiten müssen. Und so schaffen Rote Armee und Deutsche Reichswehr gemeinsam an der oberen Wolga in geheimer militärischer Zusammenarbeit eine moderne Flieger- und Panzerwaffe, die beiden Mächten zugute kommt. In Deutschland selbst sind ja laut Versailler Vertrag solche modernen Waffengattungen verboten. Nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland werden Stalin von deutscher Seite frei erfundene „Dokumente“ zugeschoben, die beweisen sollen, daß die russische Generalität um Tuchaschewski mit den Deutschen zusammen ernsthaft plant,   Stalin zu stürzen. Im Buch "Das Gesicht des Dritten Reiches" von Joachim C. Fest wird erwähnt, der für alle Schurkenstreiche der Nazis zuständige Reinhard Heydrich habe hier seine Hände mit im Spiel gehabt. Stalin glaubt diesen Schwindel und leitet die berüchtigten Massenprozesse ein, bei denen die Todesurteile von vornherein unumstößlich feststehen. Diese Generäle fehlen jetzt auf russischer Seite.

Im Gegensatz zum Frankreichfeldzug vor etwas mehr als einem Jahr erzeugt dieser Rußlandfeldzug trotz der Landgewinne bei mir nicht mehr diesen Stolz auf die Leistungen „unserer Jungs“. Wahrscheinlich schiele ich zu oft im Atlas auf die Gesamtgröße der Sowjetunion. Ich frage unseren Lehrer, bis zu welcher Linie wir vordringen wollen, um dann halt zu machen. Er weiß es nicht. Keiner weiß es. Das ist doch irgendwie unheimlich.                           

Oder  will man irgendwo in der Weite der asiatischen Steppe zum Halten blasen lassen, eine Art chinesische Mauer errichten und ein Jahrhundert lang Wache schieben, an einer „ewig blutenden Grenze“? Ja, dann würden wir, einmal zum Militär eingezogen, ein Leben lang diesen Wachdienst versehen müssen. Gott bewahre!

Auch unser Lehrer wirkt jetzt lustlos.       

Mit dieser Unsicherheit allein gelassen, widme ich mich jetzt mehr und mehr den Überlegungen hinsichtlich meines beruflichen Werdeganges, denn die Schulzeit ist für mich so gut „wie gelaufen“. In der kargen, wenig ertragreichen  Landwirtschaft meines Vaters will ich nicht bleiben und viel Auswahl bei anderen Berufen gibt es in der Eifel nicht. Nun, ich habe ja noch ein paar Monate Zeit zum Überlegen und Suchen nach einer möglichen Arbeitsstelle.

Unser Lehrer, der in einem Klassenraum die Schuljahre 5 bis 8 unterrichtet, wird in letzter Zeit nach meinem Empfinden immer lustloser; dies läßt er uns jedoch kaum spüren. Er wird durch Anordnungen von oben gezwungen, uns Aufgaben und Fragen zu stellen, die nicht seiner Meinung und Einstellung entsprechen. Einmal muß er fragen: „Wo wohnt der Führer?“ Die Antwort soll lauten: „Im Herzen eines jeden Deutschen“. Doch das hatte ich vorher schon irgendwo gehört und mehr als schlechten Witz und Blödsinn empfunden. Und so beschließe ich, mich nicht zu melden, also auf die Beantwortung der Frage des Lehrers zu verzichten. Unser Lehrer schaut mehrmals forschend zu mir herüber, vermutlich, um herauszufinden, warum ich in unüblicher Weise an seiner  Frage vorbeihöre. Von anderen Schülern und Schülerinnen kommen dann Antworten wie: In Berlin, in Berchtesgaden, auf dem Obersalzberg, in Braunau usw. Dann meldet sich eine Schülerin, die gemeinhin mit den schlechtesten Noten glänzt und gibt tatsächlich die richtige, das heißt, die „von oben“ gewünschte Antwort. Sie darf die Sachen packen und erstmals in ihrem Leben vorzeitig nach Hause gehen. Ob Hitler zu diesem Zeitpunkt wenigstens vorübergehend in ihrem Herzen wohnt, lasse ich dahingestellt. Im Herzen unseres Lehrers scheint er, nach dessen verschlossenen, mürrischen Gesicht zu urteilen, jedenfalls nicht Wohnung bezogen zu haben.

Wertvolles Leben, in Rußland erloschen...     

Mein Kölner Vetter kommt kurz vor seinem Militärdienst von Köln aus mit dem Fahrrad zu uns in die Eifel, um uns einen kurzen Abschiedsbesuch abzustatten. Nach seiner äußeren Aufmachung urteilend, hatte ich ihn bisher als strammen Hitlerjungen eingestuft. Aber dann berichtet er mir von Geheimtreffs der verbotenen Katholischen Jugend in Köln und von den dort geführten ernsthaften Gesprächen. Ich bin bestürzt, was seine seelische Verfassung anbetrifft. Er glaubt nicht mehr an ein glückliches Ende für Deutschland und auch nicht für sich persönlich. Dann zeigt er mir, mehr im Scherz, ein Wortspiel. „Schreibe“, so sagt er, „das Wort HERRLICHKEIT in Druckbuchstaben auf ein Stück Papier. Und nun streiche die Buchstaben des Wortes KIRCHE durch. Was bleibt übrig? HITLER. Buchstabengenau!“ Nun ja, ein nettes Wortspiel, aber aus einer Grundeinstellung heraus erdacht. Mein Vetter kommt nach einer Kurzausbildung  an die Ostfront und fällt kurz darauf nördlich von Moskau bei Rschev, als die Russen ihre erste große Winteroffensive beginnen. Seine Eltern erhalten mit seinem Nachlaß einen an sie adressierten Brief, der sich wie eine Lebensbeichte liest und der viel von der seelischen Größe meines Vetters preisgibt und der mit den Worten endet: „Heute Nacht greift der Russe an. Wenn ihr diesen Brief erhaltet, bin ich nicht mehr am Leben. Euer Sohn.“ Wertvolles Leben, erloschen irgendwo in den Weiten Rußlands. Aber HITLER wird vorerst noch einige Jahre „übrigbleiben“ und seine Durchhaltebefehle geben.

Aber das Wort HERRLICHKEIT ist dahin, für eine lange Zeit, für verlorene Jahre.

 



Rschev (Reshev)

Wie gesagt, mein Vetter, er hieß Hans Karl Kläsgen, fällt bei Rschev. In den achtziger Jahren meines Lebens erfahre ich aus dem Internet, dass in den blutigen Kämpfen um diese russische Stadt von Oktober 1941 bis März 1943 mehr als 100 000 deutsche Soldaten ihr Leben ließen. Die Rote Armee soll angeblich zwischen 500 000 und

1 000 000 Soldaten verloren haben. Die Zahl der Opfer sei größer als in Stalingrad gewesen sein. Die Kämpfe waren so hart und unerbittlich, weil die sowjetische Militärführung diesen nördlich von Moskau nach Osten vorspringenden Frontverlauf als Bedrohung der russischen Hauptstadt empfand und auf Geheiß Stalins ohne Rücksicht auf die gewaltigen Opfer bei der Armee und der Zivilbevölkerung zurückdrängen oder abschneiden wollte.

Endlose Weiten, russische Landschaft

Russlandwinter

Stürme über weißen Flächen                          Warme Sachen von zu Hause

türmen den Schnee.                                        kommen zu spät.

Lippen brechen.                                             Sturm ohn‘ Pause

Und der Zeh!               Ja:                              Mut verweht.               Und:

Grausames Frieren;                                       Hier in der Eifel

werden verlieren.                                           wachsen die Zweifel.

 

Schnee verwehet Wagen, Pferde,                   Man erfährt’s vom Hörensagen,

deckt alles zu.                                                so nach und nach

Und die Erde                                                  und die Fragen

friert im Nu.                Drum:                         werden wach.              Denn:

Waffen versagen,                                         Sind hier im Lande                            

Landser verzagen.                                          an Deutschlands Rande!

                                   Eifel hat zu oft erfahren,

                                   vor langer Zeit,

                                   über Jahren,

                                   sehr viel Leid.             Und so

                                   fragt man benommen:

                                    „Wird’s wiederkommen?“  *)       

*) Im Spätherbst 1944 wird  die Eifel wieder Schlachtfeld.

                                  



Ein kleiner Hoffnungsschimmer?

Wie bereits von mir erwähnt, greift Japan am 07. Dezember 1941 die amerikanische Flotte in Pearl Harbour auf Hawaii an und beginnt nach dieser Schwächung Amerikas anschließend mit einer Invasion  großen Stils im gesamten ostasiatischen Raum. Nun haben wir also den Zweiten Weltkrieg! Das müsste uns doch hier in Europa Luft verschaffen, wenn die Japaner auch die Sowjetunion in Sibirien angreifen würden! Aber dies werden sie nicht tun und sie haben dies sogar in einem entsprechenden Geheimabkommen gemeinsam beschlossen. Doch davon weiß Hitler nichts. Die Deutschen wundern sich bloß, dass plötzlich an der Ostfront die in Asien nicht benötigten, für den Winter gut ausgerüsteten Sibirischen Divisionen auftauchen und mit gefährlichen Gegenoffensiven beginnen.

Unser Lehrer meint in Verkennung der wahren japanischen Interessen, der Angriff Japans auf Sibirien werde noch kommen. Doch zunächst müssten sie neben den Amerikanern auch die Briten besiegen und die Niederländer aus Niederländisch Indien (dem späteren Indonesien) vertreiben. Er nennt das ein Inselhüpfen der Japaner.

 

Die aus den von uns besetzten Balkanländern Jugoslawien und Griechenland auf Urlaub kommenden Soldaten berichten, kurz nach dem scheinbaren Sieg habe eine Partisanentätigkeit begonnen. Da ist von einem jugoslawischen Partisanenführer namens Tito die Rede. In den Wehrmachtsberichten werden diese Kämpfe lange Zeit totgeschwiegen.                                   



Luftschutzbunkerbau im Mühlenberg

Wenn die „Vorspiele des Lebens“ sich im reinen Kinderspiel als Zeitvertreib erschöpft haben, versuchen sie sich in mehr oder weniger sinnvollen Aktivitäten, um hierbei die Grenzen des Erlaubten auszuloten.

 

Das Verfolgen des jeweiligen Frontverlaufs auf der Landkarte, ob in Rußland oder mittlerweile auch in Süditalien, nährt die Vermutung, die Front könne sich in nicht so ferner Zukunft auf uns zu bewegen. Wir hören auch von der ständig wiederholten Forderung Stalins an die Westalliierten, durch Landung vom Atlantik her im Westen eine weitere Front aufzubauen. Diese könnte nach einer trotz Atlantikwall geglückten Landung an der Bunkerlinie des Westwalls nochmals zum Stehen gebracht werden. Aber, so wird im Dorf argumentiert, wir würden dann zum Hinterland der Front mit Nachschub und Etappe und somit zum Ziel der alliierten Jagdbomber gehören. Wie realistisch diese Vermutung ist, wird sich in einem Jahr zeigen! Hinter der an einen Hang des Mühlenberges angelehnten „Obersten Mühle“ befindet sich in Dachhöhe eine etwa 2 bis 3 m breite ebene Fläche, bevor der Hang weiter ansteigt. Es wird nach mehreren Zusammenkünften von Daheimgebliebenen, also nicht zum Militär einberufenen alten Männern des Oberdorfes entschieden, von dieser Fläche aus zwei Stollen waagerecht in den Berg zu treiben, die tief innen durch einen Querstollen vereinigt werden. Von diesem Querstollen aus soll dann der eigentliche Bunkerraum weiter in den Berg getrieben werden. Dessen Überdeckung wäre dann so gewaltig, daß selbst schwere Bomben, sogenannte „Bunkerknacker“ keine Gefahr für die Insassen darstellen würden. Übrigens: Dort oben, im Dornengestrüpp des Mühlenberges, befinden sich die inzwischen überwucherten, selbstgebauten „Bunker“, in denen wir vor einigen Jahren Soldat spielten (siehe „Jugendromantik“). Ein im Dorf beheimateter Sprengmeister besorgt Donarit als Sprengmittel und bald wachsen die beiden Eingangsstollen munter in den Berg hinein. Es sieht verheißungsvoll aus, bis plötzlich keine Sprengungen mehr zu hören sind. Was ist passiert? Die zuletzt bereits vorbereitete und auch gezündete Sprengung ist nicht losgegangen. Und nun wagt sich keiner mehr in den Stollen hinein. Mein Vetter Franz Josef Nußbaum und ich zermartern uns nun unsere Jungenköpfe und überlegen hin und her, was zu tun ist. Ja also, so spinnen wir, wenn die Zündschnur nicht bis zum Sprengmittel abgebrannt ist, kann die Sprengung auch nicht mehr von selbst losgehen. Es kann also nicht so gefährlich sein, bis zur Ortsbrust des Stollens zu gehen und die Sache in Augenschein zu nehmen. Diese „Ortsbesichtigung“ setzen wir flugs in die Tat um. Mit Hilfe einer Taschenlampe erkennen wir ganz deutlich die Stelle, wo die Zündschnur in die Donaritmasse eintaucht. Zum Auslösen der Sprengung braucht man Hitze. Fehlt die erforderliche Temperatur, gibt es keine Explosion. Die Frage ist jetzt, ob die beim Herausziehen der Kapsel mit Zündschnur aus dem Donarit entstehende Reibungswärme für eine Explosion ausreicht oder nicht. Wir entscheiden uns für „nicht“. Durch ein vorsichtiges und sehr langsames Ziehen bleibt die Reibungswärme im Rahmen und bald halten wir Zündschnur und Kapsel brav in unseren Händen. Wir haben gar nicht vor, das Ergebnis unserer Bemühungen als Heldentat zu verkaufen, sondern sorgen dafür, daß der Sprengmeister schnellstens Bescheid erhält und mit den weiteren Arbeiten beginnt. Unsere Eltern verabreichen uns jedoch ein schlimmes Donnerwetter und bezeichnen unsere wohlüberlegte Tat als unverzeihliche Dummheit

Damit müssen wir leben.