Seminar in Ostberlin (noch DDR)

Ich stehe jetzt an einer Wegegabelung meines Lebens. Um das „Wohin des Weges?“ beantworten zu können, muss ich zunächst meine Vergangenheit durchforsten. In den zurückliegenden Jahrzehnten war von den „östlich von uns lebenden Menschen deutscher Zunge“ meist nur einmal im Jahr die Rede, wenn die Mainzer Karnevalssitzung im Fernsehen übertragen wurde und der Sitzungspräsident die Begrüßung der Fernsehzuschauer mit dem Satz ausklingen ließ: Und nun begrüßen wir herzlich unsere Brüder und Schwestern jenseits der Zonengrenze.“ Prost und Helau! Das war’s. Mehr nicht.

...doch als die Mauer nicht mehr stand kam die Erinn'rung wieder



 

 

(Die geistige Wiedervereinigung braucht ein wenig mehr Fingerspitzengefühl.)



Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt,

der andre packt sie kräftig an und handelt.

                                                                        Dante Alighieri

 

Am 03. Juni 1991 sitze ich im Frühflieger von Köln/Bonn nach Berlin-Tegel und warte auf einen meiner Kollegen, der in der Nähe des Flughafens wohnt. Ich sitze wie auf heißen Kohlen, denn dieser Kollege ist in dem von mir zusammengestellten Programm für ein um 10 Uhr beginnendes Seminar fest eingeplant. Dieses beinhaltet, was keinen meiner Leser ernsthaft interessieren dürfte, die Planung, Projektvorbereitung, Baudurchführung und Dokumentation von Fernwärmebaumaßnahmen in einem  bisher in Ostdeutschland  noch unbekannten wirtschaftlichen Umfeld. Auf rein fachlichem Gebiet benötigen unsere ostdeutschen Kollegen von uns Westdeutschen keine "Besserwisserei". Träger der Veranstaltung, die im ehemaligen Stasi-Bau, jetzt Lichtenberger Kongress-Center in der Normannenstraße in Ostberlin stattfindet, ist die AGFW, Arbeitsgemeinschaft Fernwärme, in Frankfurt am Main. Angeregt und dringend erbeten wurde das Seminar von den ostdeutschen neuen Mitgliedern des Fachausschusses Wärmeverteilung der AGFW, in dem ich ebenfalls Mitglied bin. Ich würde es als ein böses Omen für meine Tätigkeit im Osten Deutschlands betrachten, wenn sie mit Pannen, wie dem Fehlen angekündigter Referenten, beginnen würde. Das würde zu sehr wie ein lascher Beratungstourismus wirken, von dem später noch die Rede sein wird.

Mein Kollege taucht dann doch noch kurz vor dem Schließen der Flugzeugtür auf und nimmt neben mir auf dem von mir freigehaltenen Sitz Platz, so dass wir auf dem Flug noch einige weitere Feinheiten besprechen können. Übrigens: Der Aufzug des Hochhauses in dem er wohnt, hatte tatsächlich geklemmt und seine Verspätung verschuldet.  Weitere Referenten sind neben mir selbst je ein Herr von der Arbeitsgemeinschaft Fernwärme, einem Ingenieurbüro für Fernwärmeprojekte und  einem süddeutschen Versorgungsunternehmen. Mit dem Letztgenannten hatte ich bereits am 10. April in Stuttgart Gespräche zur Programmgestaltung geführt. Die Organisation von Programmablauf, Ausstattung der Seminarräume mit Projektoren und Leinwänden, sowie Imbiss während der Veranstaltung ist gut gelöst. Im Grunde ist diese Geschichte nicht berichtenswert. Aber sie ist mir doch als nicht unwichtig im Gedächtnis haften geblieben und dies ist der Grund:

Getrennte Übernachtungen nach Ost und West                

Die Organisation der Übernachtung sagt mir nicht zu. Während wir, die Referenten, in einem guten Hotel in Westberlin untergebracht sind, übernachten unsere ostdeutschen Kollegen im Osten der Stadt in einer Unterkunft mit der Qualität einer Jugendherberge Dunkeldeutschlands. Abgesehen davon, dass wir die Chance eines abendlichen Zusammenseins zur Kontaktpflege nicht nutzen, ist die genannte Regelung nicht im Sinne der geistigen Überwindung der Trennung zwischen Ost und West und sie trägt mit dazu bei, die Wortbildungen Wessis“ und „Ossis aus der Taufe zu heben.

Die Inhalte der Vorträge sind schriftlich festgehalten und als Tischvorlagen an alle Seminarteilnehmer verteilt worden. Dies muss sein, weil der Stoff, der ja im wesentlichen die Instrumente für das Tätigwerden im freien Markt beinhaltet, für unsere ostdeutschen Kollegen zunächst einer allmählichen Gewöhnung bedarf.

 

Sozialistische „Stadtidylle“         

Den Kurzaufenthalt in Ostberlin oder Berlin Ost nutze ich zu einem Vergleich dieser einstigen Hauptstadt der DDR mit dem Vorzeigeobjekt des Westens in Westberlin. Ostberlin ist ein typisches Beispiel für eine bis zum Überdruß langweilige Wohn- und Schlafstadt mit tristen Bauten, mangelnder Infrastruktur, also nicht ausreichenden Vergnügungsstätten, Cafés, Restaurants, Bars und so weiter. In den Neubaugebieten an der Peripherie Ostberlins fehlt eine noch so karge Grünerschließung. Da stehen gewaltige Plattenbauten, preußisch ausgerichtet und aneinander gereiht, ohne Baum und Strauch, in der sandigen Einöde Brandenburgs, der ehemaligen „Sandbüchse des heiligen römischen Reiches deutscher Nation“. Ja, aber Berlin Ost hat doch besonders viele historische Bausubstanz aufzuweisen,- oder nicht? Ja, das stimmt. Lassen wir das Brandenburger Tor, das ja auf der Grenze steht und in die Berliner Mauer quasi integriert ist, einmal außer acht. Es gibt, um nur einige zu nennen, die Humboldt-Universität, die Deutsche Staatsbibliothek, das Museum für deutsche Geschichte in einem schönen Barockbau, die stilgerecht wiederaufgebaute Deutsche Staatsoper (Rokoko), die St.-Hedwigs-Kathedrale und, neben vielen weiteren erwähnenswerten, um endlich zum Ende zu kommen, das Pergamonmuseum, das ich vor Jahren im Rahmen einer von Westberlin ausgehenden Stadtrundfahrt besichtigt hatte. Also tummeln sich die meisten historischen Bauten Gesamtberlins weit mehr in Ostberlin als in Westberlin herum. Aber das ändert nichts am Eindruck einer bedrückenden Tristesse, wie sie der Hauptstadt eines sozialistischen Landes würdig und angemessen ist. Ich kann mir nach meinem Umherirren sehr gut vorstellen, wie hier in einigen Jahren die Stadtplaner und Architekten von internationalem Rang gefragt und tätig sein werden.