Die Zeit des Wartens hat ein Ende
Nachdem die in den Kämpfen des Zweiten Weltkrieges verschlissenen und in ihren persönlichen Berufswünschen zurückgesetzten Ehemänner und Väter so nach und nach einen Studienplatz erhalten hatten,
dürfen wir endlich nachrücken.
Oben: Detail der Fassade an der Staatlichen Ingenieurschule, Ubierring 48 in Köln
Studium
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, konnte ich durch das Bestehen einer Ausleseprüfung das Vorsemester umgehen und das Ingenieurstudium an der Staatlichen Ingenieurschule für Maschinenwesen, Nikolaus-August- Otto-Ingenieurschule Köln, Ubierring 48, am 06. April 1948 beginnen. Im Zulassungsschreiben ist ausdrücklich erwähnt, dass ich verpflichtet bin, während der Semesterferien jeweils 8 bis 14 Tage, insgesamt etwa 6 Wochen, am Wiederaufbaudienst der Schule mitzuarbeiten. Weiter heißt es: "Da die Schule durch Kriegseinwirkung schwer beschädigt ist und viele Klassenmöbel vernichtet wurden, bitte ich um Mitteilung, ob Sie in der Lage sind, der Schule einen oder mehrere Stühle oder Tische zur Verfügung zu stellen (gegen Barzahlung)." Das Studium, das ich am 28. Juli 1950 mit der staatlichen Ingenieurprüfung beendete, hat mir viel Freude bereitet. Mit mir beendeten folgende Mitstreiter mit Erfolg das Studium:
Brandes Ernst Köln-Mülheim, Holweiderstraße 84/86
Dömer Gerhard Opladen, Rennbaumstraße 18
Dzieniszewski Karl-Heinz Köln, Bottmühle 4
Ehlers Wolfgang Opladen, Friedensplatz 7
Esch Karl-Josef Bonn, Schlossstraße 16
Fiedler Hans Köln, Severinswall 36
Gresers Werner Krefeld, Inrather Straße 42
Helseth Jan Morten Torget 5, Sarpsborg, Norwegen
Häusler Lothar Herne, Bahnhofstraße 52
Hoffmann Leo Schiffweiler/Saar, Luisenstraße 5
Küster Gerhard Wiesbaden, Schiersteiner straße 5
Malycha Hans Essen, Moltkestraße 42
Roll Rudolf-Otto Lüdenscheid, Friedrichstraße 33
Saget Hans Siegfried Köln, Agrippastraße 29/31
Schwenzer Ferdi Düsseldorf, Ulmenstraße 5
Stockheim Franz Hennef/Sieg, Sövenerstraße
Thiel Wolfgang Lüdenscheid, Grabenstraße 4
Weber Veri Josef Schönau/Eifel, Kreis Euskirchen
Weyer Karl Köln-Höhenberg, Kösener Weg 10
Wilkens Gerhard Essen, Richard-Wagner-Straße 66
Es würde mich sehr freuen, von Euch eine Nachricht zu erhalten.
Studienalltag und ein Ausrutscher
Wenn auch das Studienpensum der Vorkriegszeit haargenau übernommen worden war, so waren die Raumverhältnisse doch, mit Verlaub zu sagen, haarsträubend. An regenreichen Tagen tropfte es unablässig von der Decke und auf dem Boden bildeten sich regelrechte Pfützen. Kurz vor dem Studienbeginn hatte ich nach längeren Bemühungen einen Rechenschieber aus Holz erstanden.
Während einer Klassenarbeit, die ich zu etwa 50 % recht gut hinbekommen hatte, fiel mir der besagte Holzrechenschieber in eine dieser Pfützen und war fortan auch bei gutem Zureden nicht mehr zu bewegen.
Natürlich kam ich hierdurch in Zeitnot und konnte die Klassenarbeit nicht ganz abschließen. Ich machte einen entsprechenden Vermerk auf der letzten Seite, der auch, wie ich einige Tage später feststellen durfte, bei der Benotung berücksichtigt wurde. Doch das wusste ich ja zunächst nicht. Ich erzählte mein Missgeschick meinem Freund Fiedler. Dieser nahm mich kurzerhand mit zu sich nach Hause (er wohnte in unmittelbarer Nähe der Ingenieurschule). Im Keller des Hauses hatte sein Vater, der sich mit Glasbläserei auskannte, eine kleine Schnapsbrennerei eingerichtet. In dieser Brennerei begannen wir mit umfangreichen Experimenten und jeweiligen Geschmacksproben mit Bewertung. Da wir das Mittagessen total vergessen hatten, wirkten sich die Proben recht nachhaltig aus.
So verfielen wir nach einigen Stunden in so genannte Schnapsideen. Plötzlich sagte mein Freund: „Jetzt gehen wir in die Oper“. Wir zogen wegen des Frostwetters unsere Wintermäntel an, Fiedler steckte noch eine Weinflasche in meine Tasche, dann zogen wir los. Hinter der zweiten Häuserzeile lagen als Hinterlassenschaft des Bombenkrieges ganze Schuttberge, die wir erklimmen mussten.
Irgendwann erwachte ich aus einem unfreiwilligen Schlaf. Dann gingen (nein stolperten) wir weiter. Eine meine kalten Hände, die zeitweise im Frostboden halt gesucht hatten, zog ich aus der Manteltasche, die sich bereits mit Trümmerschutt gefüllt hatte. Dann wurde ich irgendwann durch lautes Gepolter aus einem Schlaf wachgerüttelt und befand mich in der Lore der Trümmerbahn, die eigentlich für das Beseitigen des Trümmerschutts gedacht war. Der wurde zu einem stetig wachsenden Berg gefahren, den die Kölner Monte Klamotte nannten. Aus der nächsten Lore schaute Fiedlers Kopf hervor und - voller Überraschung und Unverständnis- zu mir herüber. An der Straßenbahnhaltestelle Ulrepforte wurden wir von lachenden Bauarbeitern ausgeladen. Diese wollten vor allem wissen, woher wir den Schnaps hatten. Das heißt, wir wurden von ihnen regelrecht beneidet. Denn wie kam man in dieser schweren Zeit an ein solches Eau de vie? Dann steckte man uns in eine Straßenbahn und ich erinnere mich nur noch an unsere Ankunft vor dem Haus, in dem ich zur Untermiete wohnte. Mein Freund sagte nur noch: „Dann muss ich wohl nach Hause gehen“. In einem viel zu großen Bogen erreichte er die andere Straßenseite und ich endete voller Bewusstlosigkeit auf meinem Bett, wo ich wenig später von meiner besorgten Wirtin aufgefunden wurde.
Es gibt bei einigen Kommilitonen Zeugnisse mit besseren Noten. Aber als "Volkschüler" aus der Eifel bin ich hoch zufrieden.
Ehemalige Offiziere der deutschen Wehrmacht wieder auf der Schulbank
Was in relativ kurzer Zeit in Vergessenheit geraten sein wird: Es gab eine Zweiklassengesellschaft bei den Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Ich kann hier nur das wiedergeben, was uns von unseren Kommilitonen berichtet wurde, die als Offiziere in amerikanischen und kanadischen Kriegsgefangenlagern des Zweiten Weltkrieges wohlbehütet und in großer Freizügigkeit die restliche Kriegszeit verbrachten*, als wir noch als Halbkinder an den brüchig gewordenen Fronten als Kanonenfutter herhalten mussten oder in der Gefangenschaft z.B. in Bergwerken geschuftet haben. Ihre Berichte interessierten mich allein schon deshalb, weil diese Glückskinder des Krieges uns, die anderen Studierenden, mit ihrem Wissensvorsprung in den Schatten stellten.
So berichtete mein Freund H.S. in schönstem Kölsch: „Wir haben in der kanadischen Gefangenschaft gefressen und gesoffen und vor allem intensiv studiert.“ Toll was? In einer eigens zu diesem Thema anberaumten Stunde erfuhren wir einige Details. So wurden von den in den Lagern „schmachtenden“ Spezialisten regelrechte Seminare zu Themen angeboten, in denen sie die Fachleute waren. Das reichte von der Differential- und Integralrechnung bis zur Relativitätstheorie und in der Chemie von den Salzbildnern bis zur physikalischen Chemie. Zudem wurden auch Themen zu Belletristik, Kunst, Recht usw. angeboten und von den an der Front bekehrten Angehörigen einer vermeintlichen Herrenrasse wahrgenommen.
Als ein ehemaliger Artillerieoffizier seine im harten Kriegsgeschehen erprobten Kenntnisse in der Ballistik preisgab, verließ ein sonst recht umgänglicher Schweizer Kommilitone unsere Veranstaltung mit hörbarem Protest.
Der vorstehend erwähnte Wissensvorsprung einiger gab in dieser Zeit eines gewaltigen Neuanfangs der enormen Bildungsbereitschaft aller einen zusätzlichen Schwung.
*) Nach der Genfer Konvention genossen gefangene Offiziere in so genannten
Offitzierslagern besondere Privilegien.