Bild oben: Im Spätherbst 1939 beginnt der Aufmarsch des deutschen Westheeres

Sturmläuten über der Eifel

 

Vorwort

Was jetzt folgt, könnte als Kriegszeit überschrieben werden.

Aber keine Bange!

Da ist nicht von Heulen und Zähneknirschen die Rede.

Es beginnt sogar mit einer die Jugend begeisternden Zeit.

Der eintönige Alltag der Eifeler Dorfjugend

wird durch den Aufmarsch des Deutschen Westheeres abgelöst.

Die Eifel wird mit Truppen aus allen Teilen Deutschlands überschwemmt.

Der am 23. August 1939 geschlossene sogenannte Hitler-Stalin-Pakt hielt Deutschland im Osten den Rücken frei, um im Westen mit dem sogenannten "Erbfeind" Frankreich und dem Ergebnis des Friedensvertrages von Versailles aufzuräumen, wie es die Tageszeitung nannte.

Spätsommer 1939

Das Jahr 1939 beschert uns zum letzten Mal einen friedlichen Sommer. Aber die Zeichen stehen schon auf Sturm. Ich verfolge die Abendnachrichten interessiert und höre aus den Meldungen heraus, dass die Beziehungen mit Polen auf eine Konfrontation hinauslaufen. Ähnlich bereitete die deutsche Propaganda die Besetzung der Tschechoslowakei zum 15. März 1939 vor. Aber wir hören auch trotz Verbot Radio Luxemburg und erfahren über dessen Nachrichten, die Westmächte würden auf eine Besetzung Polens durch deutsche Truppen mit einer Kriegserklärung an das Deutsche Reich antworten. Für Teilnehmer des Ersten Weltkrieges läuft eine Aktion unter dem Motto „Kamerad wo bist du“, mit Treffen in den ehemaligen Garnisonsstädten und im August muss Vater zu einer dreiwöchigen Wehrübung an die Holländische Grenze, wo er bei der bespannten oder berittenen Artillerie eine Kurzausbildung erhält. Der „Westwall“ entlang der Grenzen zu unseren westlichen Nachbarn ist mit Höckerlinien als Panzersperren und Bunkern als Verteidigungslinie fast fertiggestellt und wird jetzt von Kampfverbänden unserer Wehrmacht bezogen. Die Stimmung ist bedrückt. Meine Eltern sagen, die beim Ausbruch des (Ersten) Weltkrieges entstandene Begeisterung und Kriegsbereitschaft sei nirgendwo festzustellen.

 

 



September

 

Betaute Spinnennetze

Zwischen müden Blättern.

 

Abgesang des Lichts,

einmal noch aufglühend

in diamantener Zersplitterung.

 

Zitternd leicht.

Seufzte die Luft?

 

Hinter den Hügeln

sammeln sich schon

die Stürme der Nacht.



Sonnenuntergang über dem Nordmeer, Sonnenuntergang über Europa

Spätsommer 1939

Das Gedicht von  Olly Komenda-Soentgerath in „Wasserfall der Zeit“ im vorigen Abschnitt gibt die Stimmung der Leute wieder, die den Weltkrieg bereits hautnah erlebt hatten. (Jetzt im Jahre 1939 nennt man den Krieg von 1914/18 nur Weltkrieg, denn man ahnt noch nicht, dass sich der bevorstehende Krieg  zu einem neuen Weltbrand ausweiten wird, so dass man zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg unterscheiden muss.

Wir Jungen sehen das ganz anders.

In meinem Alter (im November werde ich 12 Jahre alt) bin ich regelrecht begierig nach aufregenden Ereignissen und Entwicklungen. Insofern betrachte ich auch einen eventuellen Krieg als etwas Großartiges, das den Abenteuergeschichten der Jugendbücher sehr nahe kommen würde. So registriere ich dann auch mit wachem Interesse das Auftauchen von Soldaten mit Motorrädern (sogenannte Kradschützen) und sonstigen Militärfahrzeugen

des Heeres und Flugzeugen der Luftwaffe im sonst so grauen Alltag. Der Wunsch, in naher Zukunft etwas Aufregendes zu erleben, erzeugt fast eine leichte Furcht, es könne letztendlich doch alles friedlich und somit trist und uninteressant bleiben. Aber dann sehe ich wieder die deutlichen Anzeichen einer stillen Mobilmachung.

Sonntags gehen wir Jungen zum 2 km entfernten kleinen Dorf Holzmülheim und bestaunen die auf der durch den Ort führenden Reichsstraße 51  in Richtung Grenze fahrenden, mit Tarnfarbe bestrichenen Autos. Die meisten haben das Kennzeichen WH (Wehrmacht Heer). Die als Fahrzeuge der Flak (Abkürzung für Fliegerabwehrkanonen) erkennbaren Fahrzeuge haben hingegen das Kennzeichen WL (Wehrmacht Luftwaffe). Alle diese Fahrzeuge fahren nicht in Kolonne, sondern möglichst unauffällig einzeln zwischen den Zivilfahrzeugen der Sonntagsausflügler. In unserer Umgebung üben Soldaten das Tarnen von am Waldrand abgestellten Fahrzeugen und das Aufbauen von Telefonverbindungen quer über die abgemähten Getreidefelder, die jetzt als Stoppelfelder für kleine Wehrübungen bestens geeignet sind. Doch am meisten faszinieren mich die Übungen der Flugzeuge am heimatlichen Himmel. Die mit einigem Stolz gewürzten Schilderungen der Fronterlebnisse durch meinen Vater an den langen Winterabenden haben wesentlich zu meiner Erwartenshaltung, die beileibe nichts mit Feindgedanken zu tun hat, beigetragen. Einen möglichen Kriegsgegner stelle ich mir groß, tapfer und ebenbürtig vor, so wie bei den Ritterkämpfen des frühen Mittelalters. Ein Krieg mit Polen paßt, von der Kleinheit dieses Landes her betrachtet, nicht in das Bild meiner Vorstellungen. Es liegt auch zu weit von uns weg.

 

Altgediente ehemalige Soldaten des (Ersten) Weltkrieges, wie auch mein Vater (ich erwähnte es bereits), werden jetzt zu kurzen Wehrübungen eingezogen. Doch meine Eltern zeigen alles andere als Begeisterung. „Wo soll das noch hinführen?“, sagen sie. Und das Schildern von Fronterlebnissen meines Vaters gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Nach seiner Rückkehr von der Übung berichtet er jetzt wirklichkeitsnah  und bar jeder Romantik von unsinnigen und unmenschlichen Ausbildungsmethoden und brüllenden Vorgesetzten. „Sie behandeln uns Familienväter wie junge Rekruten. Wir sollen hierdurch wohl so gefügig gemacht werden, daß wir einen eventuellen Fronteinsatz, so er kommen sollte, als vom Drill befreiend empfinden.“  Das ist für mich neu und enttäuschend zugleich. Also höre ich weg und erzähle es keinesfalls weiter. Es passt einfach nicht in meine jugendlichen Phantasien, sprich Phantastereien. Und ich kenne keinen einzigen Gleichaltrigen, der anders denkt und spricht als ich.

Während der Abwesenheit meines Vaters zur Wehrübung mußten wir Kinder noch mehr, als ohnehin schon üblich, in der Landwirtschaft mit anpacken. Mutter versuchte, unsere Anstrengungen durch einige „Extras“ zu mildern. An besonders heißen Tagen wurde in einer großen Waschbütt aus Wasser, Holunder und Zucker ein durstlöschendes, frisch duftendes Getränk zubereitet, das in den Alpen als Almdudler bekannt ist. Im Gemischtwarenladen unseres Dorfes bekam man für sage und schreibe einen einzigen Pfennig ein kleines Tütchen mit Waldmeisterpulver, das, in Wasser aufgelöst, ein sprudelndes, erfrischendes Getränk ergab. Im Spülbecken der Küche lag die Butter tagsüber unter dem stetig tropfenden Wasserhahn und wurde auf diese einfache Weise frisch gehalten. Und Freitags gab es Woche für Woche den selbstgebackenen frischen Eifeler Fladem, einen mit Früchten, Streusel, Zucker oder Grießmehl belegten und mit Teigriemchen verzierten Hefeteigkuchen.



Vater ist zu einer Wehrübung bei Lövenich an der holländischen Grenze verpflichtet worden.     



Ende August tritt bei uns in der Eifel, also in der Nähe

der Westgrenze, insofern Ruhe ein, als die Soldaten kaum noch in unser Blickfeld treten.  Dafür werden die Radiomeldungen über angebliche Übergriffe der Polen auf Volksdeutsche so zahlreich, dass hierdurch eine Volksmeinung gezüchtet wird, die ein gewaltsames Eingreifen im Osten geradezu herausfordert. Aber, wie ich schon vorhin sagte, ein solcher Krieg, irgendwo weit im Osten und gegen einen nicht ebenbürtigen Gegner, interessiert mich nicht.

 Doch bald wird das, was sich meine Jungenphantasie ausgemalt hat, bei uns im Westen ernste Wirklichkeit werden: Der Aufmarsch des deutschen Westheeres; ein aufregendes Ereignis nach dem bisherigen langweiligen Einerlei des Dorflebens.

 



Die Zugvögel scheinen zu spüren, daß die Zeit der Falken naht und sammeln sich besonders früh in diesem Jahr zum großen Zug nach Süden.

 



Unsere Dorfstraße            

Noch ist sie, wie eh und je, fast ausschließlich vom Gerumpel der ochsenbespannten Leiterwagen mit eisenbeschlagenen Rädern, dem Knallen der Peitschen und den anfeuernden Rufen der Fuhrleute belebt. Dieser eher beschauliche Straßenverkehr erlaubt selbst den Hühnern ein ungefährliches Überqueren der Straße. Sie fühlen sich lediglich „belästigt“ und quittieren dies mit einem mitunter etwas aufgeregten Gegacker. Mehr nicht? – Nun hör mal! Eine derart belebte Dorfstraße wirst du später einmal erfolglos suchen. Nur, heute, vor dem Heraufziehen eines neuen großen Krieges, ist sie noch von Kindern und selbst alten gehbehinderten Menschen gefahrlos zu benutzen und so, als Spielplatz und Ort von geschwätziger Mitteilsamkeit bis zu den Fachwerkwänden der sie beidseitig einengenden Häuser voller Leben.

                                            

 



Dampfwalze im Jahr 1939

In diesem Frühjahr wurde diese „meine“ Dorfstraße neu befestigt, nicht etwa mit einer Asphalt-decke oder gar Straßenpflaster. Das Geld reicht nach Mitteilung des Dorfschulzen, der sich lieber als Bürgermeister bezeichnet, nur für eine wassergebundene, mit Sand eingestreute Schotterdecke aus. Aber der Bau dieser primitiven Straßenbefestigung ist eines der aufregendsten Erlebnisse meiner Jugend.

Da werde ich eines schönen Morgens weniger von den Strahlen der schräg durchs kleine Schlafzimmerfenster eintretenden Sonnenstrahlen, als vielmehr durch das ohrenbetäubende Rumpeln eines großen fauchenden, weil mit Dampf betriebenen Gefährts geweckt. Da bleibt mir kaum noch Zeit für eine große Morgenwäsche und schon bin ich draußen. Der Chauffeur der sogenannten Dampfwalze steht hoch oben auf dem bis zum Obergeschoß reichenden Gefährt und lenkt dieses mit einer laufend nach der einen oder anderen Seite gedrehten Kurbel. Die alte Straßendecke war schon in aller Morgenfrühe herausgenommen worden. Beiderseits der Fahrbahn hocken jetzt die Kiesklopfer mit ihren Hämmern. Andere Arbeiter schaufeln die klein geklopften Steine auf eine aus großen Steinen bestehende Setzpacklage. Darauf wird nun eine feine rötliche Sandschicht eingestreut. Und dann kommt das fauchende Ungetüm und walzt alles fest. Das knirscht und kreischt und lenkt die Aufmerksamkeit der Fußgänger (Fuhrwerke können vorübergehend nicht durchfahren) auf dieses Wunderwerk der Technik und vor allem auf den Chauffeur. Vater sagt, die Berufsbezeichnung komme aus dem Französischen und bedeute eigentlich „Heizer“. Aber bei uns im Dorf nennt man selbst einen Autofahrer Chauffeur.

 

Nachdem die neue Fahrbahn fertiggestellt ist, bleibt eines: Der Matsch auf der Dorfstraße bei Regenwetter, das Bespritzen der Sportstrümpfe beim Laufen und das Kehren der Straße vom Haus bis zur Straßenmitte an den Samstagnachmittagen. Aber: Der kräftige Unterbau wird der Belastung durch die in den kommenden Monaten aufmarschierenden Militärfahrzeuge, einschließlich der Geschütze, Munitionswagen und Panzer standhalten. Und diese Ereignisse stehen kurz vor der Tür.

Innere Unruhe

Ich empfinde die innere Unruhe jetzt bei der allgemeinen Erwartung eines Kriegsausbruchs wie das Knistern der Halme und Ähren von überreifem Korn auf flachsblonden Feldern. Sogar die Luft scheint elektrisch geladen zu sein, wie vor einem schweren Gewitter. Die Zugvögel spüren dies. Sie sitzen auf den Drähten der von Haus zu Haus gespannten Stromleitungen und zwitschern ihre Lage- und Flugroutenbesprechungen in den tiefdunklen Eifelhimmel.

 



Mit dem nachfolgenden Gedicht versuche ich, nachträglich, meine damalige Stimmung in einigen Zeilen einzufangen. Das fast gefühlte Herannahen eines Weltbrandes fügt sich, noch schwach,  ein in das herbstliche Bild eines scheinbar ewig gleichen Jahresablaufes.

Vor dem Sturm 

 

Kartoffelfeuer auf den Feldern, flachweg ihre Schwaden ziehen,

Herbstdüfte verbreiten.

Wildgänse über bunten Wäldern, jetzt figurenbildend fliehen,

aus des Nordlands Weiten.

 

Und ständig wechseln die Figuren, ihrer Flugformationen,

den Wind zu überlisten.

Legen rauschend ihre Spuren, für Stürme die im Eisland wohnen,

sich dort zum Angriff rüsten.

 

Blätter zappeln an den Zweigen, werden bald zur Erde schweben,

wo sie sich versammeln

und nach diesem bunten Reigen, dem Boden neue Nahrung geben,

indem sie dort vergammeln.

 

Die Düfte, Farben, Vogelschwärme, woll’n beizeiten dir verkünden:

Alle Jahre wieder,

folgt Winter auf des Sommers Wärme, mit Schnee und eiseskalten Winden

und Rheuma für die Glieder.

 

Doch riecht’s jetzt auch nach andern Bränden und sogar nach Pulverdampf.

Es drohen schwere Wetter,

Ob Ost, ob West: An allen Enden, wird gerüstet jetzt zum Kampf.

Bald fall’n nicht nur die Blätter.

 

 



Die in der Euskirchener Kaserne stationierten Soldaten einer Kradschützeneinheit zerfurchen zur Zeit im Rahmen einer, so scheint es mir, stillen Mobilmachung unsere Feldwege, um dann gegen Abend dreckverschmiert wieder in die Kaserne zurückzufahren. Ich beobachte interessiert, wie die Übung vonstatten geht. Also: Die Fahrer ziehen die Motorräder in eine scharfe Linkskurve und genau in diesem Moment müssen die auf dem Sozius und im Seitenwagen, auch Beiwagen genannt, sitzenden Infanteristen nach rechts abspringen und sofort auf dem Bauch im Schlamm landend volle Deckung nehmen. Das Schauspiel wird nicht nur von mir, sondern auch von einem Vorgesetzten beobachtet, dessen Gesichtszüge sowohl Strenge als auch sichtliches Wohlbehagen verraten. Er lächelt zufrieden und nimmt mit zwei spitzen Fingern ein paar Flusen von seiner pieksauberen Uniform.

 



Spionageflugzeug

Am späten Nachmittag bin ich mit Opa, einer Tante und Verwandten aus der Stadt bei der Feldarbeit auf einem hochgelegenen Acker. Ich höre ein beschaulich wirkendes schwaches Motorengeräusch und beobachte kurz darauf einen langsam fliegenden Hochdecker, der ein Reklameschild mit der gut leserlichen Aufschrift TRUMPF hinter sich herzieht. Es ist ein Zweisitzer. Der hinter dem Pilot sitzende Mann neigt sich hin und wieder zur Seite, so, als wolle er die schöne Eifellandschaft genießen. Das Flugzeug verschwindet, nachdem es den mit einer Luftbeobachtungsstation bestückten Michelsberg überflogen hat, in Richtung Osten.

Einige Tage später wird gemunkelt, man habe bei der Schokoladenfirma Trumpf Erkundigungen eingezogen und dabei erfahren, dass von dieser Firma kein Reklameflugzeug eingesetzt worden sei. Aha! Es war also, wie jetzt jeder unschwer folgern kann, ein feindliches Aufklärungsflugzeug. Die Zeit wird doch von Tag zu Tag spannender. Herrlich!

 



Entrümpelung der Speicher

Unser Speicher, auch Dachboden genannt, ist nicht nur für das Lagern des gedroschenen Korns von Nutzen. Nein, er ist auch eine wahre Schatzkammer mit alten Truhen, deren Inhalte meine Neugier schon lange fesseln. Was da nicht alles zu finden ist! Vor allem die Bilder, Postkarten und Zeitungsausschnitte aus der Zeit des Krieges von 1914 bis 1918 haben es mir angetan. Als unser Lehrer erstmalig von einem bevorstehenden Erlass spricht, wonach die Speicher von allem „alten Kram“ entrümpelt werden sollen, bin ich bis ins Mark erschreckt. Es beruhigt mich nur halb, dass die Entrümpelungsaktion bis zu einem möglichen Kriegsbeginn zurückgestellt werden kann.

Nach der Schule gehe ich zuerst zum Speicher hoch und bringe einige besonders interessante Karten in ein sicheres Versteck, das nur mir allein bekannt ist.



Schönauer Rekruten im Ersten Weltkrieg vor dem Fronteinsatz         

Diesen Auszug aus dem deutschen Heeresbericht vom 10. Juni 1917 (Westfront) finde ich zusammen mit weiteren Heeresberichten von der italienischen, mazedonischen und russischen Front beim Entrümpeln unseres Speichers.

Herbst 1939

Einquartierung im Dorf

 

Die Stille unseres in einem Tal gelegenen Eifeldorfes, der Mangel an Abwechslung, der graue Alltag von morgendlicher Schule und nachmittäglicher Feldarbeit auf kargen Äckern werden eine Woche nach Beginn des Zweiten Weltkrieges durch erste Anzeichen einer bevorstehenden Einquartierung von Soldaten der Deutschen Wehrmacht unterbrochen.

Es ist einer jener Herbsttage, die kein goldenes Wetter versprechen, sondern durch Kühle und dichten Nebel ein Gefühl von Einsamkeit und Eintönigkeit verbreiten. So trete ich, ein zwölf-jähriger Junge, vor unser Hoftor und schaue die von Fachwerkhäusern beiderseits bedrängte enge Dorfstraße hinunter. Was erwarte ich schon? Nichts!- Doch dann kommt plötzlich, aus einer Seitenstraße einbiegend, ein Trupp Soldaten, angeführt von einem mit Schreibblock bewaffneten Feldwebel, dem Quartiermeister, in mein Blickfeld. Sie gehen von Haus zu Haus, erkunden die Unterbringungsmöglichkeiten und schreiben das Ergebnis ihrer Ermittlungen mit Kreide gut lesbar auf Türen und Tore: Die Belegungsstärke. Dies sieht bei uns wie folgt aus: 1Uffz., 6 Mann, 6 Pferde. Aha! Wir haben also berittene Artillerie zu erwarten, denn Kavallerie gibt es meines Wissens nicht mehr; sie wurde durch moderne Panzerverbände ersetzt. Mein Gott, bin ich aufgeregt! Am nächsten Tag kommen die Soldaten und nehmen Quartier. Im Nu verwandelt sich unser von Wohnblock, Scheune und Stallungen umschlossener Hof in einen Pferdestall. Es sind schwere Kaltblutpferde, die vermutlich erst kurz zuvor von Bauernhöfen requiriert wurden, denn sie haben sich offensichtlich noch nicht aneinander gewöhnt. Wir werden gezwungen, zu 2 Brüdern ein Bett zu teilen und das frei werdende Bett dem Unteroffizier zur Verfügung zu stellen. Die Mannschaften beziehen ein Strohlager im Stall. Ich laufe aufgeregt im Dorf herum, um nachzuschauen, was sich sonst noch so alles tut. Da stehen einige Autos auf dem Schulhof herum, deren frühere Beschriftung, zum Beispiel „Kaffee Hag“, trotz der Übermalung mit Tarnfarbe noch zu sehen ist. Die Reitersoldaten führen ihre Pferde auf die Dorfweiden. Die Dorfschmiede ist ebenfalls mit Soldaten umlagert, die den Notstall für das Beschlagen ihrer Pferde benutzen Sie haben ihren eigenen Schmied dabei, den sie   „Fahnenschmied“ nennen. Das ist für mich alles so aufregend neu und interessant. Und in meinem Kopf schwirren die abendlichen Schilderungen der Kriegserlebnisse meines Vaters herum. Das scheint ja eine interessante Zeit zu werden! Vielleicht sogar mit einem deutschen Angriff im Westen. Mensch, ist das spannend.

 

Der Strom der Wehrmachtseinheiten reißt nicht ab       

Einen Tag später ziehen weitere Abteilungen bespannter Artillerie durch unser Dorf auf dem Weg in andere Orte der Umgebung. Die Munitionswagen werden von vier Pferden gezogen. Auf dem jeweils linken Pferd sitzt ein Reiter, erst der Vorderreiter, dahinter der Stangenreiter. Die Geschütze benötigen 6 Zugpferde, also 3 Reiter. Es ist ein toller Anblick, wie diese Gespanne am Ende der von mir einzusehenden Straße aus einer Kurve kommend die enge Brücke passieren und dann die ebenfalls enge Dorfstraße heraufkommen. Ich kann mich von diesem Schauspiel nicht losreißen und schiebe sogar das abendliche Füttern des Viehs hinaus. Angesichts der mittlerweile recht zahlreich versammelten Leute wird ein Lied befohlen. Aus den rauhen Kehlen der erkennbar bejahrten Reservisten, die vermutlich schon im ersten Weltkrieg als Frontsoldaten Dienst taten, erschallt der Gesang:

Es ist so schön Soldat zu sein, Rosemarie.

Nicht jeder Tag bringt Sonnenschein, Rosemarie.

Soldaten sind Soldaten

mit Worten und mit Taten.

Sie kennen keine Lumperei

und sind nur einem Mädel treu

falderi faldera falderalala, Rosemarie.

Die Reiter auf ihren Pferden scheinen, nach den Gesichtern zu urteilen, die Schönheit des Soldatenlebens noch nicht so recht erkannt zu haben. Ich muss an meinen Vater denken, der ebenfalls im Ersten Weltkrieg mit 18 Jahren bei der berittenen Artillerie Dienst tat und vor einigen Tagen wieder zur selben Waffengattung einberufen wurde. Er wird jetzt, so wie die vorbeiziehenden Reservisten, mehr an seine Familie und die noch nicht abgeschlossene Herbstarbeit denken, als das schöne Soldatenleben zu bejubeln.

Einen Tag später ziehen motorisierte Flak-Verbände ( Flak= Fliegerabwehr- Kanonen ) mit jungen aktiven Soldaten durch unseren Ort. Diese Jungs scheinen , im Gegensatz zu den Reservisten, das Leben auf Achse zu genießen, betrachten sie es doch als willkommene Abwechslung nach dem schikanösen Kasernenleben. Oberhalb unseres im Tal gelegenen Dorfes bezieht eine gemischte Horch- und Scheinwerfergruppe Stellung. Ihre Aufgabe ist es, mit den vom Horchgerät gesteuerten Scheinwerfern bei nächtlichem Feindanflug die Wolken so von unten anzustrahlen, dass die eindringenden Flugzeuge auf den erhellten Wolken für die deutschen Nachtjäger sichtbar werden. Es werden also in unserem Gebiet, das als Nachtjagdgebiet ausgewiesen ist, keine Flieger-abwehrkanonen stationiert. Natürlich können sich auch die Flaksoldaten als Nachtjäger betätigen, sofern sie bei den zu kleinen Abenteuern geneigten Mädchen der näheren Umgebung genügend Sympathie finden. Die Mädchen unseres Dorfes sind ohne Zweifel nicht darunter. Die sollen gefälligst warten, bis wir soweit sind!



Unsere Einquartierung

Das scheint der Beginn eines richtigen Krieges zu sein.

Was war eigentlich diesem Truppenaufmarsch im Westen Deutschlands voraus-gegangen? Am ersten September 1939 hören wir während des Frühstücks eine Wiederholung der Mitteilung Hitlers, wonach als Reaktion auf einen nächtlichen Angriff polnischer Verbände auf den deutschen Sender Gleiwitz ab 4 Uhr 45 zurückgeschossen werde. Abgesehen davon, daß dieser polnische Angriff vorgetäuscht war, fragen wir uns, ob dies nun Krieg sei oder nicht. Vormittags begleite ich einen Nachbarn, der mit seinem Ochsengespann vom nahegelegenen Feld Hafer heim holt. Auch wir beide wissen auf die Frage, ob dies nun Krieg sei, keine Antwort. Die Abendnachrichten lassen dann aber keinen Zweifel mehr daran, daß die deutsche Wehrmacht mit Waffengewalt in Polen einmarschiert ist. Also Krieg mit Polen. Aber was machen die Westmächte England und Frankreich? Nun, sie erklären uns in den nächsten Tagen den Krieg. Am 03. September, dem Tag der Kriegserklärung Frankreichs, balgen sich einige deutsche Jagdflugzeuge über unserem Ort in großer Höhe am blauen Himmel herum. Die Unruhe junger Pferde vor dem ersten ernsthaften Ausritt! Das ist zunächst aus meiner Sicht alles. Allerdings gilt ab sofort striktes Verdunklungsgebot und bis zum Abend muß das Verdunklungspapier gekauft, zurechtgeschnitten und auf passende Holzrahmen aufgeklebt werden. Der Ortsgruppenleiter schleicht nach Einbruch der Dunkelheit durch den Ort und prüft die Wirksamkeit der Maßnahmen. Nach 20 Uhr hält irgendein hoher Parteifunktionär im Rundfunk eine „zündende“ Rede und immer wieder brüllt er: „Führer befiehl, wir folgen!“ Kurz vor Mitternacht hören wir dann das auf- und abschwellende Motorengeräusch einer sehr hoch fliegenden feindlichen Maschine, wohl eines Aufklärungsflugzeuges. Mich fröstelt unter der warmen Bettdecke. Also Krieg, auch bei uns im Westen und nicht nur auf Polen beschränkt.

Vater wird zum Militärdienst eingezogen.                

Am nächsten Morgen erhält mein Vater in aller Frühe, wir liegen noch im Bett,  den Gestellungsbefehl: „Sie haben sich innerhalb von 24 Stunden......einzufinden“ usw. Meine arme Mutter! Sie sitzt also jetzt mit 3 Jungen, dem alten Opa, unserem „Ohm Plück“ und der ältesten Schwester meines Vaters allein da. Und da ist für sie ja auch noch die Arbeit eines Rendanten der Spar- und Darlehnskasse Schönau zu erledigen. O Gott o Gott! Nachdem Vater abgereist ist, versucht Opa das Kommando zu übernehmen und gibt meist recht kuriose Anweisungen im Befehlston, die ich dann bewusst überhöre. Meine Tante weint dann still vor sich hin: „Nein, wenn doch Peter (mein Vater) noch da wäre.“ Dieser Kleinkrieg ebbt wieder ab, nachdem Opa seine Aufgabe in der Waldarbeit gefunden hat: Dem Abschlagen von Reisig für das Heizen des Steinbackofens und ab dem Frühjahr dem Schälen von Eichenrinde, die als Material für das Gerben von Tierhäuten zur Lederherstellung verwendet wird.



Rote-Kreuz-Lehrgang in Schönau

Die makabren Witze unseres Lehrers          

Unser Lehrer ist dazu ausersehen, die Dorfbewohner bei Luftschutzübungen in gekonnter Manier in Angst und Schrecken zu versetzen. Einige Leute erwägen ernsthaft, diesem Bangemachen fernzubleiben. Bangemachen ist aber wirklich eine Spezialität unseres Lehrers. So erzählt er uns Schülern mit todernstem Gesicht von feindlichen Flugblättern, die nie abgeworfen wurden. Ein paar Kostproben:

Michelsberg zu Zwerg. Wir werden dich finden und du mußt verschwinden.“

Anmerkung: Auf dem Michelsberg wurde direkt nach Kriegsbeginn eine Flugwache eingerichtet.

Lingscheiderhof, wir bringen dich auf den Schof“. Schof nennt man bei uns die Totenbahre.

Münstereifel im Loch, wir finden dich doch“.

Schönau an der Wichet, auch du wirst vernichtet“. Anmerkung: Schönau ist mein Heimatdorf.

Nach dem Unterricht gehe ich ganz schön aufgeregt nach Hause und berichte dort von den angeblichen feindlichen Flugblättern. Später erfahre ich von einem Nachbarn, daß man die Texte beim Gesangabend des Kirchenchores nach ein paar Bier aus lauter Jux erfunden habe. So versucht man, den Humor auch in dieser Zeit nicht ganz zu verlieren. Allerdings, Bangemachen ist nicht unbedingt die schönste Art von Humor.

Aber jetzt ist das Dorf voller Soldaten und bei dieser nicht zu verhindernden Enge braucht man auch viel, viel Humor.                                                      

Rundfunk und Film sind ganz auf Kriegspropaganda und Truppenbetreuung eingestellt. Jedes Wochenende wird über den „Großdeutschen Rundfunk“ das Wunschkonzert für Soldaten übertragen und zu Hause sitzen die Familien an den Lautsprechern, um mitzubekommen, ob auch ihre „Jungs“ oder Väter Grüße an die Heimat senden. Das am öftesten gewünschte Lied heißt: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“.

Dann wird diese beliebte Sendung Titel eines Films mit Ilse Werner und Carl Raddatz. An den Sonntagen bringt die NS-Gau-Filmstelle  der NSDAP mit einem Spezialfahrzeug derartige Filme zusammen mit der Wochenschau im Tanzsaal unseres Dorfes zur Aufführung.

Muckefuck

Den Schulunterricht bespickt unser Lehrer mit Mitteilungen über teils gravierende Änderungen unseres Alltagslebens durch den Krieg und die hiermit verbundenen Einschränkungen. Das hört sich dann so an: „Wer weiß, warum jetzt alle Frauen am Jammern sind?“ Ich weiß, das meine Mutter, eine richtige Kaffeetante, das plötzliche Fehlen der Kaffeebohnen schmerzlich bejammert. Als Ersatz gibt es Kathreiners Malzkaffee und andere, Muckefuck genannten Ersatzgetränke. Und, wie üblich, redet unser Lehrer jetzt, da seine Frage richtig beantwortet wurde, lang und breit über diesen neuen Begriff. Vor knapp 125 Jahren war die Eifel ein Teil Frankreichs. Die hier stationierten Soldaten bekamen damals auch keinen Bohnenkaffee, weil dessen Einfuhr nach Europa durch die von den Briten verhängte Kontinentalsperre nicht möglich war. Sie tranken also Kaffee-Ersatz, den sie Mocca Faux (falschen Mokka) nannten. Daraus entwickelte sich bei den Eiflern, die ebenfalls gezwungen waren, notgedrungen diesen gar nicht so schlechten Sud zu trinken, der Muckefuck. Der Mocca Faux war vielfach eine Mischung aus gemälzter Gerste oder Roggen und Zichorie (Chicorée), einer Wurzel der Wegwarte. Opa, der sich noch an manche „altfränkschen“ Ausdrücke erinnern kann, behauptet steif und fest, dies sei dummes Zeug. Mucke komme von Mucken ( braune Erde) und dem Wort faul im Sinne von falsch (da ist etwas faul oder falsch). Wenn ich ihn mit viel Kuhmilch trinke, schmeckt er recht gut und wirkt auch als Muntermacher. Das können unsere Soldaten, die bald durch ganz Europa marschieren müssen, gut gebrauchen.



Plakat der NS-Gaufilmstelle (Karl Raddatz und Ilse Werner)

Auch wir Schüler werden, so glaube ich, dringend gebraucht

Die Väter und wehrpflichtigen Söhne werden Hals über Kopf eingezogen und so entwickelt sich unser Dorf in Windeseile zu einer von den Frauen und alten Opas dominierten Gemeinschaft. Unsere Mutter muss, da Vater Soldat ist und als Rendant fehlt, die dem Raiffeisenverband angehörende Spar- und Darlehnskasse des Dorfes am Leben halten. Das macht in dieser Zeit des heraufziehenden Mangels besonders viel Arbeit, weil die über die Kasse angelieferten Waren, wie Saatkartoffeln, Saatgetreide, Kunstdünger (vor allem Thomasmehl und Chilesalpeter), und Briketts, rationiert wurden und die Ernteüberschüsse der kleinen bäuerlichen Selbstversorgungsbetriebe über die Spar- und Darlehnskasse abzuliefern sind. Da kommt die Dezimalwaage in unserem Hof  tagsüber kaum noch zum Stillstand. Mutter sagt, die Lieferung von Chilesalpeter werde bald zu Ende sein, weil die Anlieferung des Salpeters von Chile in Südamerika über Atlantik und Nordsee wegen des zunehmenden Unterseebootkrieges und der Blockade der deutschen Häfen eingestellt worden sei.

Hanfrupfen auf den Feldern während der Unterrichtszeit

Der Schulunterricht wird mehrmals pro Woche unterbrochen, damit wir zum Ausrupfen, also Ernten von Hanf vom Lehrer auf die Felder geschickt werden können. Das ist eine lustige Gaudi für uns Jungen und Mädchen. Dann gibt uns der Lehrer den Auftrag, in den Hecken entlang der Straßen und Wege nach wertvollem Material, wie Zahnpastatuben zu suchen und die Fundstücke  in der Schule abzuliefern. Es ist kaum zu glauben, welch reichhaltige Fundstätten diese Hecken sind! Doch dieses einsame Suchen macht weit weniger Spaß als das Gemeinschaftserlebnis des Hanfausrupfens. Die Tuben für Zahnpasta und Salben sind aus einem elastischen Material, zum Beispiel aus Stanniol, einer Bleisilberlegierung, das deshalb so weich ist, damit man die Tuben leicht total ausquetschen kann. Ich glaube gelesen zu haben, dass sich dieses Leichtmetall zum Beispiel für den Flugzeugbau eignen würde. Das ist zwar nicht sehr glaubhaft, denn Flugzeuge müssen weit mehr aushalten als Tuben und sollen bestimmt nicht ausgequetscht werden. Unser Lehrer antwortet auf meine entsprechende Frage, das Tubenmaterial  werde mit anderen hochwertigen Metallen legiert. Aber leicht müssten die Flugzeuge schon sein. Wenn ich jetzt immer öfter zu dem mit Kriegsflugzeugen bevölkerten Himmel schaue, und es werden von Tag zu Tag immer mehr, bringe ich diese Maschinen sinnigerweise mit den von mir abgelieferten Tuben in Verbindung. Und mein Tubensammeln kommt mir dann doch sehr wichtig vor.

Es ist sehr lobenswert, dass sich die Dorfbewohner darauf geeinigt hatten, die Hecken entlang der Straßen und Wege als Wegwerf- und Aufbewahrungsort des Altmaterials zu benutzen. Wo hätten wir sonst suchen sollen? Diese Hecken sind aber auch ein Lebensraum für allerlei Getier. So finde ich heute einige Kleinlebewesen, die wohl vom Zähneputzen kommen. Doch jetzt, ich bin leicht durchnässt, spüre ich einen unwiderstehlichen Druck auf meine Blase. Und wieder kommt mir die Hecke hilfreich entgegen und so kann ich sie, aufrecht stehend und von Niemandem bemerkt, als ein stilles Örtchen einweihen.

Macken

Da ich ein Tierfreund bin, lasse ich die Kleinlebewesen beim Wasserlassen trocken und ungeschoren. Die aufregenden Ereignisse der letzten Wochen haben mich so stark sensibilisiert, dass ich fast ausflippe und mir einige unsinnige Macken zugelegt habe, so  glaube ich wenigstens. Da gehe ich ein paar Stunden später wieder zu der besagten Hecke und schaue nach, ob nun wirklich keine Flutopfer unter den Tierchen zu beklagen sind. Genug davon!

So mache ich mir meine eigenen Gedanken und komme zu dem Ergebnis, dass wir alle irgendeine Macke haben, auch die Erwachsenen. Da gibt es einen Kleinlandwirt, der auch ein Wäldchen sein eigen nennt. Da er scheinbar genug Zeit und Muße hat und sein Wäldchen mehr liebt als seine Frau (sie pflegt regelrecht eine gewisse Unordnung), fegt er im Frühjahr sämtliche über Herbst und Winter gefallenen Blätter zuhauf und karrt sie aus dem Wald heraus zur „Schindskul“ des Dorfes , einer Grube für Abfälle jeglicher Art. Das Wort Schindskul bedeutet im Rheinischen allgemein Kaule, Grube für Tierkadaver, verendete Tiere, gefallenes Vieh.  „Wat mähst du dann do, Jupp? Die Blaade (Blätter) senn doch de beste Dünger!“  „Dat nötz alles nix, Deä Bösch moss sauber senn.“ Usw.

Schulaufgaben, Kinderarbeit und politische Ereignisse bringen mich bald wieder auf normale Gedanken. Am heilsamsten ist hierbei die körperliche Arbeit.



Aufmarsch des Deutschen Westheeres in der Eifel, Herbst 1939

 

      Wie so oft in den früheren Jahrhunderten ist die Eifel auch diesmal wieder Haupt-Aufmarschgebiet. Hier stehen unter anderem die Panzertruppen und motorisierten schnellen Verbände für den berühmten „Sichelschnitt“ durch die Ardennen, südlich an der Hauptstreitmacht des Gegners vorbei zur Kanalküste bei Boulogne sur Mer und Dünkirchen.

               Das Führerhauptquartier befindet sich in einem Bunkersystem oberhalb von Münstereifel bei dem Dörfchen Rodert, also in meiner Heimat.

 



Mein Vater als Vorderreiter vor einem Munitionswagen der Artillerie

Oben: Und so vollzieht sich der Aufmarsch des Deutschen Westheeres.

...und zu Hause übernimmt Opa das Kommando

Opa und ein zur "Kopfarbeit" angeschirrter Ochse namens Max

Die Kleidung verdeutlicht, dass Oma bereits nicht mehr lebt

Leben im Dorf mit den Soldaten               

Wie wirkt sich diese öfters wechselnde Einquartierung auf mich aus? Ich finde es, wie vor dem Kriege bei der „Einquartierung“ von Gästen aus den deutschen Großstädten im Rahmen der Ferienaktion „Kraft durch Freude“ spannend, die aus den verschiedensten deutschen Gauen stammenden Soldaten mit ihrer unterschiedlichen Mentalität näher kennenzulernen. Ich lausche

abends ihren Erzählungen aus der jetzt für sie fernen Heimat, schaue mir ihre rundgereichten Fotos an, die ja neben den Familienangehörigen auch hier und da ein Stück der Landschaft zeigen: Das Baden am Ostseestrand von Pommern, Mecklenburg und Rügen, eine Sturmflut an der Nordseeküste, die Heuernte an den Steilhängen der Alpen, die weite Wald- und Seenlandschaft Ostpreußens, die breitbeinig wirkenden stabilen Bauernhäuser Westfalens mit ihren fast bis zum Boden reichenden Dächern, der steil abfallende Abschluß des Glatzer Berglandes, die sogenannte Heuscheuer, in Schlesien, den Thüringer Wald und die Sächsische Schweiz, ja und die Lüneburger Heide mit ihren obligatorischen Birken und dem Heidekraut. Das alles wird von den Soldaten, die sich abends in einer leichten Schwermut oder gar einem wohligen Heimweh gefallen, sehr wortreich und mit vielen Details geschildert. Ich lerne durch ihre Schilderungen die Vielfalt Deutschlands kennen und für mich entsteht so etwas wie eine  große Volksgemeinschaft zum Anfassen. Viele Soldaten werden uns nach ihrem Fortgang noch solange schreiben und sich an unseren „Eifeler Fladem“ erinnern, bis wir durch das Ausbleiben ihrer Feldpostbriefe, die ab 1941 aus Rußland kommen werden, mit Sicherheit davon ausgehen können, daß sie gefallen sind. Manchmal wird uns diese traurige Botschaft auch von einem Kameraden schriftlich mitgeteilt. Einigemal gelingt es einem der bei uns einquartierten Soldaten, seine Frau für ein paar Tage kommen zu lassen. So erhält er in unserem Hause Gelegenheit, noch vor dem bevorstehenden Fronteinsatz etwas für die Komplettierung seiner Familie zu tun. Denn wer soll den Hof erben, wenn er fallen sollte? Auch darüber            

wird recht offen gesprochen.



Opa kommandiert

Die einquartierten Soldaten werden hin und wieder zur Hilfe bei der  Arbeit  in der Land- und Forstwirtschaft abgestellt.
Hier kommandiert mein Opa einen Soldaten im Drillichanzug.


Hilfe auf Gegenseitigkeit           
Vorübergehend ist in unserem Dorf eine sogenannte Instandsetzungsstaffel des Heeres einquartiert. Durch die unvermutet schnelle Kriegserklärung der Westmächte nach unserem Einmarsch in Polen und den darauf folgenden fast überhastet eingeleiteten Aufmarsch eines deutschen Westheeres muss die Ausstattung dieser Truppe jetzt nach und nach komplettiert werden. Die Instandsetzungsstaffel ist hiermit beauftragt und ihre Soldaten haben alle Hände voll zu tun. In meinem Vaterhaus ist die Schreibstube untergebracht. Jetzt werde ich Tag für Tag gebeten, abends bei der Aufstellung der Stücklisten behilflich zu sein. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich zunächst einmal angeleitet und eingewiesen werden muß. Ob die Hilfe eines Schuljungen überhaupt gestattet ist, wage ich zu bezweifeln. Aber ich mache es gerne, weil der Vorwitz über die Feierabendmüdigkeit siegt. Natürlich stelle ich zunächst manche dämliche Fragen, zum Beispiel: „Was heißt eigentlich dito?“ „Also, dito wird beim Militär scheinbar massenweise gebraucht“, denke ich, bis mir gesagt wird , dass es „ebenso“ bedeutet.


Drillich       
Bei den Arbeitseinsätzen in der Land- und Forstwirtschaft tragen die Soldaten zur Schonung ihrer Uniformen den auf obigem Bild erkennbaren hellen Drillichanzug. Drillich ist ein auch Drell oder Zwillich genanntes sehr dichtes und sehr festes Leinengewebe. Die aus Drillich gefertigten Arbeitsanzüge gehören zur Grundausstattung eines jeden deutschen Soldaten. Ich frage den Soldaten, warum diese  Anzüge diese empfindliche helle Farbe haben. „Das ist Teil der Schikane, der wir täglich ausgeliefert sind. Heute Abend, wenn ich eigentlich Feierabend hätte, kann ich diese helle Kleidung mühsam mit Kernseife piekfein säubern.“


Der Nahaufklärer Henschel HS 126 dient der

Heeresunterstützung (Panzer, Artillerie usw.)



Flugzeuge dieses Typs kreisen während des  Winters 1939/40 täglich über unserem Dorf. Sie werden wohl hauptsächlich als Schulflugzeuge benutzt. In den Nachrichten werden sie gar nicht erwähnt, im Gegensatz zu den Fernaufklärern vom Typ Dornier Do 17.

Denn diese Fernaufklärer fliegen täglich bis weit nach Frankreich hinein.

 

 



Der Fernaufklärer Dornier Do 17 (Fliegender Bleistift)
Vater auf Kurzurlaub (hier in unserem Garten)

Vater ist auf Kurzurlaub und Bruder (Wilfried Weber) „spielt“ Soldat.

Ist Mutter nicht ein wenig stolz?                                                                                               

Dieser Kurzurlaub wird bereits vor Anbruch der Nacht wieder zu Ende sein. Vater mit Stiefel und Sporen (im Bild nicht erkennbar) weist ihn als Reitersoldat aus. Obwohl er neben der Landwirtschaft noch die Spar- und Darlehnskasse für Schönau und die umliegenden Dörfer zu führen hatte, wurde er nicht UK-gestellt, also nicht vom Wehrdienst freigestellt. Das verdankte er dem linientreuen Ortsvorsteher. Meine Mutter übernahm diese Aufgabe ohne jede Unterstützung, was ihr eine bleibende Herzschwäche als "Dankeschön" bescherte.  Man bedenke, dass zu den Aufgaben der Kasse auch die Versorgung der Bevölkerung mit Briketts und der landwirtschaftlichen Betriebe mit Kunstdünger gehörte.

Und dann waren auch noch drei Söhne aufzuziehen.

Da bleibt keine Zeit, um sich für dieses Foto umzukleiden.

Scapa Flow 1919, Deutsche Flotte vor der Selbstversenkung. Dieses Bild

fand ich bei einer Nordmeer-Kreuzfahrt in einer britischen Zeitung in Kirkwall (Orkney-Inseln)

„...denn wir fahren gegen Engeland, ahoi“       Nördlich von Schottland liegen die Orkneys, eine Inselgruppe mit 67 teils kleineren Inseln, von denen aber nur 18 bewohnt sind. Die größte dieser Eilande, Mainland genannt, beherbergt den wohl am besten versteckten und gesicherten Flottenstützpunkt Großbritanniens, namens Scapa Flow. Hier liegt ein beträchtlicher Teil der britischen Home Fleet (Heimatflotte). Übrigens versenkte sich hier in der Bucht von Scapa Flow am 21. Juni 1919 ein großer Teil der an die Sieger des 1.

Weltkrieges auszuliefernden deutschen Flotte vor den Augen der Briten selbst. Es waren 70 Einheiten (Schlachtschiffe, Kreuzer, Zerstörer). Die pragmatischen Briten sahen diesem Schauspiel seinerzeit angeblich gelassen zu, konnten sie doch jetzt den Schrott alleine bergen und verwerten. Die intakten Schiffe hätten sie mit den übrigen Siegermächten, vor allem den Amerikanern und Franzosen teilen müssen.

Am 13. Oktober 1939 schleicht sich ein deutsches Unterseeboot unter dem Kapitän Günther Prien in die gesicherte Bucht und versenkt das britische Schlachtschiff  Royal Oak. In der Cathedral of Kirkwall auf Mainland erinnert heute die Schiffsglocke der Royal Oak daran, dass an diesem 13. Oktober 1939 mit dem Schlachtschiff 833 britische Seeleute  untergingen und den Tod fanden. Am Abend des nächsten Tages, nachdem das deutsche U-Boot seinen Verfolgern entkommen ist und die offene See erreicht hat, wird im Radio mit Fanfarenklängen nach der Melodie „denn wir fahren gegen Engeland, Engeland“ eine Sondermeldung angekündigt, die dann den deutschen Erfolg als ein Husarenstück der U-Boot-Besatzung bekannt gibt. Am nächsten Morgen kramt unser Lehrer seine Geige aus dem Schrank und übt mit uns das ganze Lied:

Heute wollen wir ein Liedlein singen,                                  

trinken wollen wir den kühlen Wein.

Und die Gläser sollen dazu klingen,

denn es muß, es muß geschieden sein.

Gib mir deine Hand, deine weiße Hand,

leb wohl mein Schatz, leb wohl mein Schatz

leb wohl, lebe wohl,

denn wir fahren, denn wir fahren,

denn wir fahren gegen Engeland, Engeland.

Ahoi!                                                     

Unser Lehrer versucht vergebens, uns das Lied nach einer Melodie aus dem 1. Weltkrieg beizubringen, denn inzwischen hat jeder von uns die neue, zum Marschieren geeignete Melodie im Radio gehört und verteidigt diese mit Erfolg. Für das Komponieren der Mut und Zuversicht einflößenden neuen Marschlieder, von Musikkennern  „abgehacktes Zeug“ genannt, zeichnet ein gewisser Herms Niel, Musikmeister des Reichsarbeitsdienstes, verantwortlich.

In den weiteren Wehrmachtsberichten ist im Wesentlichen von einer ruhigen Landfront an der Westgrenze (Sitzkrieg) und der Aufklärungstätigkeit unserer Fernaufklärer über Frankreich die Rede.

Zwischenzeitlich nehmen die Rudel der deutschen Unterseeboote ihre Positionen rund um die Britischen Inseln ein und werden bald der alliierten Handelsflotte hohe Verluste und den Engländern ernsthafte Versorgungsprobleme bereiten.

 

 

 



Die Schiffsglocke des Schlachtschiffes Royal Oak in der Cathedral of Kirkwall auf Mainland, Orkneyinseln                                                           

(aufgenommen während einer Kreuzfahrt)

Hans Fritsche veräppelt den Britischen Premierminister

Hans Fritsche veräppelt die westlichen Diplomaten und Militärs           

Freitagabends sitzen die bei uns einquartierten Soldaten um den Rundfunkempfänger und hören sich die Propagandasendung eines Herrn Hans Fritsche an. Dieser versteht es, den gläubig zuhörenden Feldgrauen und auch mir mit viel Witz und Spott darzulegen, daß wir überhaupt nicht verlieren können. Das hört sich dann etwa so an: „Ja, die in Frankreich sitzenden stolzen Söhne Albions (die Briten)! Sie wollten nach ihrem bekanntesten Lied zu urteilen ( We are washing our washing at the Siegfriedline...) jetzt schon auf dem Marsch nach Berlin sein, nur kurz unterbrochen von einem lustigen Wäschewaschen an der Siegfriedlinie, unserem Westwall“. Schallendes Gelächter.

Dann folgt irgendein Spottgedicht oder –Lied. Zum Beispiel umgedichtet auf die Melodie von „Du hast Glück bei den Frauen, Belami“:

Hast kein Glück auf der Welt, Chamberlain,

Weil der Russ‘ mit uns hält, Chamberlain.

Mit dem Schirme in der Hand,

Wankst du müd von Land zu Land.

Bist kein Held, nur ein Mann, der viel bellt.                              

Usw., fürwahr kein besonders faires Pamphlet auf den britischen Premierminister! Nachtrag: Hans Fritzsche wurde nach dem Krieg zwar zunächst von den Sowjets verhaftet, später aber nicht als Kriegsverbrecher verurteilt.

 

Der sogenannte „Sitzkrieg“ an unserer Westgrenze dauert den ganzen Winter 1939/40 über, ohne das es zu wesentlichen Kampfhandlungen kommt. Nur die Fernaufklärer vom Typ Dornier Do 17 fliegen täglich ziemlich unangefochten bis weit hinter die französischen Linien und sammeln so das Bildmaterial für den im Mai 1940 beginnenden Blitzkrieg.



Und wieder: „Heim ins Reich“

Die Umsiedlung der Deutschen aus den an die Sowjetunion fallenden Ostgebieten 1939/40

 



Die beschwerliche Umsiedlung der Bessarabien-Deutschen

Bessarabien heißt nach dem Zweiten Weltkrieg Moldavien,

zwei kleine Randgebiete fallen an die Ukraine.

Die zuvor von mir erwähnte Gaufilmstelle, die Sonntag für Sonntag mit einem speziellen Kombiwagen anreist, präsentiert uns neben den Spielfilmen auch immer die mit Fanfaren und einem von Scheinwerfern hervorgehobenen Reichsadler angekündigte aktuelle Deutsche Wochenschau. Diese Einführung macht die Sache richtig spannend. Bei den Spielfilmen gibt es keine Wahlmöglichkeit, denn es steht pro Woche nur einer auf dem Programm. Also, man geht hinein oder bleibt zu Hause und liest ein Buch.

Nun hatten, wie Ihr sicher alle wisst, Hitler und Stalin kurz vor dem Polenfeldzug, also im August 1939, einen Nichtangriffspakt geschlossen. Hierauf wurde ich aufmerksam, als ich für Vater einen Brief bei einer Familie unseres Dorfes abgeben musste. Als ich nach dem Eintreten von der Hausfrau in die Küche gebeten wurde, lag dort auf dem Küchentisch ausgebreitet die Vorderseite des Westdeutschen Beobachters, unserer einzigen Tageszeitung. Und hierauf war in großen roten Lettern geschrieben: Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion“. Stolz zeigt die Frau auf diesen Artikel und sagt: „Jetzt brauchen wir keine Angst vor einem Krieg zu haben“. Da war ich aber erleichtert. In Wirklichkeit war in einem Zusatzabkommen (Grenz- und Freundschaftsvertrag) die Teilung Polens und eine Neuordnung Osteuropas festgelegt worden. Danach sollen alle ausreisewilligen Deutschen, deren Vorfahren vor etwas mehr als einem Jahrhundert dort gesiedelt hatten, aus diesen Gebieten ins Großdeutsche Reich „heimgeholt“ werden. Zur Neuordnung Osteuropas gehört auch die Abtretung von Bessarabien durch Rumänien an die UDSSR und die Annektion der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Durch Russland. Stalin ist also ganz schön gefräßig! Hat er sich doch im russisch-finnischen Krieg, der am 12. März 1940 zu Ende gehen wird, Teile Kareliens einverleibt.

Die Wochenschau zeigt uns jetzt, wie im kalten Winter 1939/1940 ganze Trecks deutscher Siedler mit Pferd und Wagen durch den tiefen Schnee nach Westen ziehen. Die meisten von ihnen werden im sogenannten Warthegau angesiedelt. Dieses zum besiegten  Polen gehörende Gebiet muss hierzu polenfrei gemacht werden. Was das für die Ortsansässigen dort  bedeutet, ist menschenunwürdig.

Deutschland verabschiedet sich als Kulturnation.

Der Marsch in den Tod (Himmlers SS führt einen Vernichtungskrieg gegen die Wehrlosen).

Kazimierz,

ist ein ehemaliges jüdisches Viertel in der Stadt Krakau. Nach dem Einmarsch der Deutschen im September 1939 begann man, die jüdischen Einwohner von Krakau in einem Sammellager südlich der Weichsel zusammenzupferchen. Von dort aus gingen später immer wieder so genannte Todesmärsche nach Norden in die berüchtigten Todeslager. Diese Straße wird auch später noch die Straße des Todes genannt.



Jüdisches Restaurant in Kazimierz (Stadtteil von Krakau)
Ehemalige Synagoge in Kazimierz

Die Härte des Vorgehens der SS trifft auch die polnische Intelligenz

Am 07. September 1940 erklärt der Reichsführer-SS Heinrich Himmler vor dem Offizierskorps der „SS-Leibstandarte Adolf Hitler“: *

„Genau dasselbe (Liquidierung) hat bei -40 °C Kälte in Polen stattgefunden, wo wir tausende und zehntausende und hunderttausende wegtransportieren mussten, wo wir die Härte haben mussten – Sie sollen das hören und sollen das aber auch gleich wieder vergessen – tausende von führenden Polen zu erschießen. Wo wir die Härte haben mussten, denn sonst würde später sich das an uns rächen…Es ist bedeutend leichter in vielen Fällen, mit einer Kompanie ins Gefecht zu gehen, als mit einer Kompanie in irgend einem Gebiet eine widersetzliche Bevölkerung kulturell tiefstehender Art niederzuhalten, Exekutionen zu machen, Leute heraus-zutransportieren, heulende und weinende Frauen wegzubringen…“



*) Aus dem Buch "Das Gesicht des Dritten Reiches" von Joachim C. Fest

In der oberen Ahreifel üben Stukas, indem sie geräumte Dörfer im Sturzflug bombardieren.

Vorbereitung des Westfeldzuges und vereinzelte französische Störflüge

In einem engen Tal parallel zur oberen Ahr zwischen Ahrbrück und Hohe Acht werden ganze Dörfer geräumt. Die von dort kommenden Kleinbauern erhalten in unserer Gegend wieder etwas Land zugeteilt.  In den Wochen nach dieser Umsiedlung können wir von den Bergen unserer Heimat, besonders von Effelsberg aus, beobachten, wie die Sturzkampfbomber (Stukas) vom Typ Junkers Ju 87 im laufenden Einsatz die jetzt leeren Dörfer mit scharfen Bomben belegen. Die Dörfer selbst kann man von uns aus nicht sehen, wohl aber die Sturzflüge der Maschinen, ihr anschließendes steiles Wiederhochziehen und die unmittelbar darauffolgenden, in den Himmel wachsenden Rauch- und Staubpilze. Aber auch das finde ich in meinem Alter einfach höchst interessant. Ich lasse mir zwei Bücher schicken, in denen die deutschen und feindlichen Militärflugzeuge beschrieben und abgebildet sind.

Mehrmals, bei stark wolkigem Wetter, trauen sich einige französische Aufklärungsflugzeuge bis in unsere Gegend. Der Spuk dauert jedoch nie lange, weil in kürzester Zeit deutsche Jagdflugzeuge vom Typ Messerschmitt Me 109 zur Stelle sind. Wir hören dann noch ein sich nach Westen verziehendes Bordwaffenfeuer, dann ist es wieder still. War das wirklicher Ernst? Oder spielten hier ein paar Flugzeuge stellvertretend für die schlafende Front ein wenig Krieg? Kann ein Krieg eigentlich nicht einfach einschlafen?



Hitlers Wehrmacht?

Wir sitzen jetzt im Winter 1939/40 abends zusammen mit unserer Einquartierung in der warmen Stube. Dieses Zusammensein wird immer wieder durch das Eintreten von Soldaten aus den Nachbarhäusern unterbrochen. Sie klopfen an, wie es in unserem Dorf Sitte ist (es gibt keine Klingel und keine abgeschlossene Tür),  warten auf unser „Herein, wenn’s kein Schneider ist“ und stehen dann in strammer Haltung und zum militärischen Gruß erhobener Hand im Zimmer. Die darauf folgenden Kurzgespräche beziehen sich fast immer auf das Programm der Einheit am nächsten Tag. Es ist ja immer was los im Dorf!

 

Jetzt, es ist schon recht spät, tritt wieder ein Soldat, wie oben geschildert, bei uns ein. Er kommt bewusst sehr spät, weil er etwas auf dem Herzen hat und von keinem unliebsamen Vorgesetzten erwischt und angeblökt werden möchte. Er trägt, wie ich unschwer erkennen kann, noch keine militärischen Auszeichnungen, wohl aber das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP am Revers. Als kleine Vorwitznase spreche ich ihn auf das Abzeichen der Partei an. „Ja, ich bin ein so genannter Alter Kämpfer der Partei und habe mich schon in den zwanziger Jahren durch Teilnahme an Aufmärschen, Saal- und Straßenkämpfen und Demonstrationen für den Führer verdient gemacht. Ich bin damals sogar mehrmals verhaftet und eingesperrt worden.“ Dann wendet er sich einem seiner bei uns einquartierten Kameraden zu. „Das findet aber hier in unserer Einheit keinerlei Anerkennung. Ich glaube fast, der Spieß (Hauptfeldwebel) hat es gerade deshalb besonders auf mich abgesehen und so spart er bei mir nicht mit den widerlichsten Schikanen.“  Sein Kamerad meint, mit Saalkämpfen sei dieser Krieg ja auch schwerlich zu gewinnen und der Führer brauche jetzt eher verdiente Frontkämpfer des (Ersten) Weltkrieges als Rabauken der SA, wie ihn. Deshalb würde eine Beschwerde bei der Partei wohl auch nichts einbringen.

Der am Boden zerstörte Saalkämpfer meint: „Unser Führer hat uns und unsere Verdienste aus der Kampfzeit der Partei aber doch nicht vergessen, sonst würde nach den Führerreden und Sondermeldungen ( z.B. von den Erfolgen unserer U-Boote)  doch nicht nach dem Deutschlandlied auch immer das Horst-Wessel-Lied der SA ’Die Fahne hoch’ gespielt und gesungen!“ Ich erzähle ihm, dass mein drei Jahre jüngerer Bruder Alfred beim Horst-Wessel-Lied immer in Tränen ausbricht und ruft ’Nicht die Geiß marschieren lassen!’“  Er erklärt mir,  dass es im Lied heißt ’Kameraden die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unsern Reihen mit’, das habe bei Gott nichts mit einer Geiß, also Ziege zu tun. Ich verlasse das Zimmer, höre aber vom Nebenraum aus, dass sich dieser aufrechte Mann nicht mit der ihm widerfahrenden  Ungerechtigkeit abfinden kann. Da habe ich irgendwo gelesen, Revolutionäre würden nach ihrem Sieg nicht mehr gebraucht, weil sie bei der Festigung der Macht durch die neuen Herren diesen zu unbequem würden.

Soldaten wie er sind nach der Aufstellung von SS-Divisionen durch Himmler in diese eingetreten.

Ich muss sagen, durch die Einquartierung ist nicht nur die Langeweile aus unserem kleinen Eifeldorf verschwunden. Ich erfahre doch auch manches, das für mein späteres Leben nicht ganz unwichtig ist. Mutter will von alldem nichts wissen und Vater ist selbst Soldat. Aber er war kein Alter Kämpfer der NSDAP, sondern sympathisierte damals unverhohlen mit der katholischen Zentrumspartei.

Später, als 16-jähriger, werde ich mich freiwillig zum Fliegenden Personal der Deutschen Luftwaffe melden. Es ist die Zeit, als die deutschen Städte im Bombenhagel der britischen Royal Airforce (RAF) versinken werden. Und es ist die Zeit, als man trickreich versuchen wird, uns als "Politische Soldaten" zur Waffen-SS einzuberufen und so zu Mitschuldigen zu machen. Durch die Freiwilligenmeldung werde ich hiervor bewahrt sein. Mein Schulfreund macht es nach den gleichen Überlegungen ähnlich: Er wird sich freiwillig zur Kriegsmarine melden.

Der böhmische Gefreite

Als sich Adolf Hitler, der Gefreite des 1. Weltkrieges, im Laufe des Krieges immer öfter in die Generalstabsplanung einmischte und dadurch für viele Fehlentscheidungen sorgte, wurde auch im Offizierskorps immer öfter  gesagt: "Da hat wohl der "Böhmische Gefreite" wieder die Hand im Spiel gehabt. Die gläubigen Nationalsozialisten aber sprachen stets von Verrat und Sabotage.

 

 



April 1940

Der „Winterschlaf“ des Krieges geht zu Ende.     

Der Winter 1939/40 hatte uns viel Schnee beschert. Trotz der chaotischen Straßenverhältnisse in der Eifel fanden immer wieder Truppenbewegungen statt. Das war kein Wetter für eine deutsche Offensive. Also, was sollte dieses hin und her?

Jetzt ist der Frühling eingekehrt und der hält diesmal was er verspricht. Den bei uns einquartierten Soldaten wird durch laufende Übungen die Wintermüdigkeit so erfolgreich ausgetrieben, daß sie inständig hoffen, die Schikanen mögen bald durch einen richtigen Feldzug abgelöst werden. Dazu kommt eine Verstärkung des Truppenaufmarsches, so daß die Anzahl der Soldaten auch in meinem Vaterhaus bedenklich zunimmt und mittlerweile nicht nur die Zimmer, sondern auch die Heuställe und Strohschuppen mit Mannschaften belegt sind. Morgens wird das Frühstück von uns und unserer Einquartierung gemeinsam eingenommen.

Es tut sich was!         

Am 9. April 1940 wird plötzlich während des gemeinsamen Frühstücks das Morgenkonzert im Rundfunk durch Marschmusik unterbrochen und eine wichtige Sondermeldung angekündigt. Da in unserer Gegend nichts auf einen Angriff im Westen hindeutet, warten wir gespannt auf die Meldung aus dem Führerhauptquartier. Vielleicht, so denke ich, wird wieder die Versenkung feindlicher Schiffe durch unsere Unterseeboote gemeldet. Aber dann werden wir vom Inhalt der Meldung völlig überrascht:                                                                      

„Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt.

Um dem im Gang befindlichen britischen Angriff auf die Neutralität Dänemarks und Norwegens entgegenzutreten, hat die deutsche Wehrmacht den bewaffneten Schutz dieser Staaten übernommen. Hierzu sind heute Morgen in beiden Ländern starke deutsche Kräfte aller Wehrmachtsteile eingerückt bzw. gelandet. Zum Schutz dieser Operationen sind umfangreiche Minensperren gelegt worden.“



Am Nordkap in Norwegen. Wo steht die Sonne hier im Sommer um Mitternacht? Dumme Frage? Im Norden natürlich!

Schnell hole ich meinen Schulatlas hervor, um mir, erstmals in meinem Leben, die Karte von Norwegen genau anzuschauen. Ich nehme einen Zirkel zur Hand, den ich an der Südspitze Norwegens einstecke und nun einen Bogen vom Nordkap nach Süden schlage. Dabei lande ich in Südfrankreich nördlich der Pyrenäen. Das kann ich zunächst kaum glauben. Ist die Europakarte unmaßstäblich? Aber nein, es stimmt! Norwegen liegt, relativ schmal, an der Westseite Skandinaviens. Die Küste des Landes ist 2650 km lang, bei Berücksichtigung aller Fjorde und Buchten sogar mehr als 20 000 km. Und nun sind, wie in den weiteren Erläuterungen zum Wehrmachtsbericht gesagt wird, pünktlich um 5 Uhr 30 deutsche Truppen in Narvik, Trondheim,       Stavanger, Egersund, Kristiansund, Arendal und Oslo gleichzeitig ausgeschifft worden. Das ist bei der stark unterschiedlichen Länge des Anfahrtsweges über  Nordsee und Nordmeer kaum zu glauben. Aber dann wird auch berichtet, der deutsche schwere Kreuzer Blücher sei im Zuge dieser Landeoperationen im Oslofjord gesunken.

Es gibt nun an unserem Frühstückstisch lebhafte Diskussionen über diese überraschenden Ereignisse. Ein Soldat meint, wir würden damit beginnen, uns zu Tode zu siegen. Aber jeder ist der Meinung, die Besetzung der beiden Staaten sei notwendig gewesen und  von den Briten, die selbst dabei waren, die Besetzung des Erzhafens Narvik vorzubereiten,  provoziert worden. Ich spitze nur meine Ohren, habe noch keine eigene Meinung, übernehme also begierig die offizielle Version. Und zudem: Endlich ist nach dieser langen Winterpause wieder was los!



An dieser engsten Stelle des Oslofjordes wurde der deutsche Kreuzer Blücher von zwei Torpedos einer norwegischen Festungsbatterie getroffen; er  versank innerhalb weniger Minuten



Der Untergang der Blücher beschäftigt meine Phantasie sehr stark. Ich stelle mir weniger das heroische Bild eines majestätisch sinkenden Kriegsschiffes vor (wie auf den Gemälden über die Skagerrakschlacht im 1. Weltkrieg) , als vielmehr das, was sich auf so einem in Windeseile unter der Wasseroberfläche verschwindenden großen Kasten abgespielt haben mag. Bei einem Landeunternehmen sind die Schiffe ja sicherlich mit Landtruppen, z.B. Gebirgsjägern, vollgestopft, die zusammen mit der Schiffsbesatzung bei akuter Gefahr ein unentwirrbares Knäuel an Menschen, Waffen und Gepäck bilden. Die Meinung einiger Soldaten unserer Einquartierung, man habe sicherlich genug Rettungsboote an Bord gehabt, möchte ich gerne mit ihnen teilen. Aber warum enthält die Rundfunkmeldung hierüber keine weitere Auskunft? Unsere Soldaten wollen hierüber nicht weiter mit mir diskutieren. Sie rechnen mit einem baldigen eigenen Einsatz und möchten nicht vorher ein Gefühl der Unsicherheit bekommen, es sei doch nicht alles weise und perfekt vorbereitet worden

Schon am nächsten Tag kreuzen die Briten mit ihren starken Seestreitkräften vor Narvik auf und bringen die gelandeten deutschen Gebirgsjäger in arge Bedrängnis. Nur eine deutsche Offensive im Westen kann die in Norwegen

kämpfenden Deutschen entlasten. Und diese deutsche Westoffensive wirft ihre Schatten voraus.



Der deutsche Schwere Kreuzer Blücher auf seiner letzten Fahrt

In den relativ sicheren Gewässern zwischen dem Festland und der westnorwegischen Inselwelt verläuft der deutsche Anmarsch ungestört.



Sitzkrieg in Norwegen

 

Hoch im Norden,

in den Fjorden,

überraschend über Nacht,

 

wurden Truppen

fix in Gruppen,

über See an Land gebracht.

 

Alte Kästen,

nicht vom Besten,

voll beladen bis zum Rand,

 

hatten viele

Landeziele,

von Oslo bis zum Narvikstrand.

 

Norge* bockte

und es lockte,

Tommyschiffe hinterdrein.

 

Doch’s Gewinsel

auf der Insel,

ließ dies nicht von Dauer sein.

 

Und so saßen

sie gelassen,

kartenspielend**  jahrelang.

 

Keine Eile,

Langeweile.

 Krieg ging aus, ohn‘ Sang und Klang.

 

 

 

*)  Norge = einheimischer Name für Norwegen

 

**) Die Deutschen spielen jedoch nicht nur Karten,

sondern bauen mit Hilfe von Fremdarbeitern

Straßen, Brücken und Bahnlinien.



Neben dem norwegischen Widerstand, der nach dem Abzug der Engländer nach und nach abnimmt und einer relativ freundschaftlichen Grundhaltung Platz macht, gibt es auch  eine nationalistische Gruppe um  deren Führer Quisling, die mit der Besatzung gemeinsame Sache macht und später sogar eine SS – Division aufstellt. Seither werden Kollaborateure im allgemein üblichen Sprachgebrauch als Quislinge bezeichnet.                              

Und das ist unser Herr Quisling



Mein Vetter Edmund

kommt kurz nach der Besetzung Norwegens als Soldat nach Narvik, wo er bis zum Kriegsende bleiben wird. Wenn man ihn später nach dieser Zeit befragt, sagt er nur:„Es waren gute und ehrliche Leute“.



In der Schule bekommen wir jetzt monatlich neben der Schülerzeitschrift Hilf mit zwei Illustrierte, den Adler als Zeitschrift der Luftwaffe und die Koralle, als Zeitschrift der Kriegsmarine. Ich wundere mich, warum das Landheer und vor allem die Panzertruppe nicht vertreten sind. Vielleicht soll schon recht früh, also im Schüleralter, für spätere Freiwillige für Luftwaffe und Marine geworben werden. So gibt es in Köln jetzt auch einen Schülerwettbewerb im Malen unter dem Motto „Seefahrt tut Not“ und Göring formuliert etwas übertrieben: „Die Deutschen müssen ein Volk von Fliegern werden“. Ich kaufe mir ein unmilitärisches Buch vom Segelfliegen. Herrlich! Es zeigt Segelflugschulen in den unterschiedlichsten Gegenden Deutschlands, beginnend mit der Wasserkuppe in der Rhön, die als die Wiege des deutschen Segelflugs gilt. Als der Versailler Vertrag nach dem (1.) Weltkrieg den Deutschen u.a. den Motorflug verbot, stürzte sich die flugbegeisterte Jugend auf das Segelfliegen.                

Beeindruckend sind auch die Bilder vom Segelflug in den Alpen und in den Ostseedünen der Kurischen Nehrung von Rossitten. Aber selbst in diesem Buch wird der Dienst fürs Vaterland angesprochen. So steht zum Beispiel unter einem Foto, welches Jungen der Flieger-HJ beim Basteln von Modellflugzeugen zeigt: Bedenket es ist fürs Vaterland, wenn wir zu Spielen scheinen.

 

 

 



Die Zeitschrift „Der Adler“ berichtete bereits ab 1936 über den Kampf der deutschen Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg.

 



Die Koralle ist die Zeitschrift der Deutschen Kriegsmarine

April, April (1940)

 

Nun ist’s schon April

und immer noch still.

Die Dörfer der Eifel sind voll Militär.

 

Den Ernstfall geübt,

verwirrt man und schiebt

die Truppenverbände bewusst kreuz und quer.

 

Den Gegner, getäuscht,

Unwohlsein beschleicht.

Er ahnt nicht den Hauptstoß vom Eifelland her.

 

So zieht er gen Nord

Die Streitkräfte fort

und öffnet das Bergland dem Grande Malheur.

 

Im Maien dann kommt

der „Sichelschnitt“ prompt,

durchquert die Ardennen geschwind bis ans Meer.

 

So ist der April,

macht stets was er will,

doch diesmal geleitet vom Großdeutschen Heer.

 

 



Hier ist der Großdeutsche Rundfunk.....

 

In der Radiolandschaft hat sich einiges verändert. Bisher war ich, von Vorwitz und jugendlichem Interesse gepeinigt, mit dem Drehknopf des Telefunken-Radiogerätes in der rechten Hand,  sowohl im Mittelwellen- als auch Langewellenbereich immer wieder suchend von Sender zu Sender geeilt. Da die ausländischen Sender, die mich, ehrlich gesagt, wegen der Andersartigkeit der Musik besonders interessierten, jetzt in einem „Ätherkrieg“ stark gestört werden, beschränke ich mich mittlerweile notgedrungen auf die deutschen Sender mit ihren altbekannten treudeutschen Programmen. Aber plötzlich, über Nacht, verlieren auch die ihre Unabhängigkeit. Es heißt jetzt statt „Hier ist der Reichssender Köln“ oder „Hier ist der Deutschlandfunk“ in gleichgeschalteter Einmütigkeit: „Hier ist der Großdeutsche Rundfunk mit allen seinen Sendern“. Vor und nach den „Führerreden“ heißt es zudem noch: „Angeschlossen sind die deutschen Kurzwellenprogramme mit ihren Richtstrahlern nach Übersee“.

Wo bleibt der Wetterbericht?

Und den Wetterbericht gibt es seit Kriegsbeginn auch nicht mehr. Das leuchtet mir auch ein, weil man doch der Einsatzleitung für die feindlichen Aufklärungsflugzeuge keine brauchbaren Hinweise auf die jeweilige Wetterlage über Deutschland geben darf. Unsere Landwirte sind jetzt, wie in früheren Zeiten, wieder allein auf die Aussagen des eigenen Rheumatismus, die Art der Sonnenuntergänge, die Wolkenbildungen usw. und die Weisheit alter Bauernregeln angewiesen.

Komischerweise gibt es aber noch Nachrichten in französischer und englischer Sprache, mit der Angabe, über welche deutschen Sender(Frequenzen) sie zu empfangen sind. Ich kann weder französisch noch eine andere Fremdsprache. Für mich hört sich die mehrmals wiederholte Ankündigung der für Frankreich bestimmten Meldungen wie folgt an: „Ici lö post dö radio wision dü raasch, Frangfuuur, Saarbrück, Colonje.“ Die Nachrichten in englischer Sprache werden nach meinem Sprachverständnis wie folgt angekündugt: „Hier is Djörmäni kooling, Djörmäni kooling“.Es hört sich in etwa an wie: „Schött me ne Korn en, schött me ne Korn en!“ und wir Schuljungen nennen sie die „Schött-me-ne-Korn-en-Sendung“.. Der im Rahmen der allgemeinen Nachrichten gesendete Wehrmachtsbericht

(„Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:.....“) wird um drei Uhr nachmittags zum Mitschreiben, also langsam gesprochen, wiederholt. Danach folgen    

Kommentare zum Wehrmachtsbericht. Die Kommentare zu den Meldungen über deutsche U-Boot-Erfolge oder alliierte Flottenbewegungen spricht dann (z.B.) ein Konteradmiral xyz. Es ist schon eine interessante Zeit für Jungen, die sich früher hauptsächlich mit Indianerspielen vergnügt und begnügt hatten. Konteradmiral! Jungejunge! Tolle, bisher unbekannte und nie gehörte Begriffe; ich weiß nicht einmal, wo dieser herkommt und was er bedeutet

Die gesendete Musik ist meist beschwingt und aufmunternd bis übermütig. Da krähen bekannte Schauspielerinnen die aus Ufa-Filmen bekannten und zum Mitsingen tauglichen Lieder in das unter Waffen stehende deutsche Volk hinein, Ilse Werner pfeift uns noch gekonnt was dazu und Männerchöre schmettern markige Marschlieder von Haselnuss, Heide, Meer und Bergen in die mit erwartungsfroher Einquartierung überfüllten Wohnungen. Da reimt sich Flak (Fliegerabwehrkanonen) auf Erna Sack (Sängerin, die in der ganzen Welt als deutsche Nachtigal berühmt ist) und Mausi auf Nichtzuhausi.  Und so kommt trotz der vielen Abschiede von zu Hause zunächst noch keine vorherrschend traurige Stimmung auf. Was war denn früher schon los gegenüber heute?

Der Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Josef Goebbels, formuliert das so: „Gute Laune ist einer der wichtigsten Kriegsartikel und möglicherweise sogar kriegsentscheidend. Gute Laune soll also jetzt produziert werden, nicht Ideologie.“ Und so klingt aus dem Lautsprecher Zarah Leanders rauchige Stimme:

 

Davon geht die Welt nicht unter,

sieht man sie manchmal auch grau.

Einmal wird sie wieder bunter,

einmal wird sie himmelblau.

Geht’s mal drüber und mal drunter,

wenn uns der Schädel auch raucht.

./.Davon geht die Welt nicht unter,

die wird ja noch gebraucht./.

 

Dann wiederum haucht sie, die Leander, die von Opa böswillig das singende Pferd genannt wird, voller Romantik ein Tangolied aus dem Spielfilm „La Habanera“ in unsere Stuben:

 

Der Wind hat mir ein Lied erzählt

von einem Glück,  unsagbar schön.

Er weiß, was meinem Herzen fehlt,

für wen es schlägt und glüht.

 

Dieses Lied ist seit Kriegsbeginn der Gassenhauer Deutschlands.

 

Und dann werden fast täglich die Muntermacher gesendet, z.B. das von Heinz Rühmann und weiteren Filmschauspielern gesungene Lied:

 

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern

 

Es weht der Wind mit Stärke zehn,

das Schiff schwankt hin und her;

am Himmel ist kein Stern zu sehn,

es tobt das wilde Meer!

O, seht ihn an, o, seht ihn an:

Dort zeigt sich der Klabautermann!

Doch wenn der letzte Mast auch bricht,

wir fürchten uns nicht!

 

Kehrreim

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,

keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

Wir lassen uns das Leben nicht verbittern, *

keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

Und wenn die ganze Erde bebt

und die Welt sich aus den Angeln hebt...,

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,

keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

 

*) Die bei uns einquartierten Soldaten singen in unserm Hof: „Der Spieß kann uns das Leben nicht verbittern...“ Dass sie diesen Text aus vollem Halse singen, lässt vermuten, dass ihnen der Spieß auf dem Magen liegt. Der in der Soldatensprache Spieß genannte Hauptfeldwebel ist für Zucht, Ordnung und die allgemeine Versorgung der Kompanie (bei der Artillerie: Batterie genannt) zuständig und in dieser Funktion meist nicht gut gelitten.

Natürlich hat das Lied noch weitere Strophen. Aber die kennt, wie bei den meisten Liedern, kaum jemand.

 

Propagandakompanien

Mein Vater ist zurzeit als Soldat Vorderreiter in einer Feldbatterie, die mit Haubitzen vom Kaliber 10,5, die schon im (Ersten) Weltkrieg Verwendung fanden, ausgestattet ist. Haubitzen sind Steilfeuergeschütze mit relativ kurzem Lauf, deren Geschosse das Ziel im ballistischen Flug treffen sollen. (Kanonen, wie das Flakgeschütz 8,8, feuern dagegen im direkten Beschuss.) Vater schreibt, er gehöre zur Drei-Lilien-Batterie, weil nach dem Befehl  „Ein Lied!“  immer nur das Drei-Lilien-Lied angestimmt werde. Andere Marschlieder beherrsche man nicht. Das Lied geht so:

  1. Drei Lilien, drei Lilien

Die pflanz ich auf mein Grab,

Da kam ein stolzer Reiter

Und brach sie ab.

 

  1. Ach Reitersmann, ach Reitersmann,

Lass doch die Lilien stehn,

Die soll doch mein Feinsliebchen

Noch lange sehn.

 

  1. Was schert mich denn dein Liebchen,

Was schert mich denn dein Grab?

Ich bin ein stolzer Reiter

Und brech’ sie ab.

 

Hinter jeder Strophe kommt noch so ein Refrain mit Juvi valle ralle ralle ralle ra, der mir, ehrlich gesagt, zu blöde ist.

Ich kenne die Melodie und singe das Lied, ohne den Refrain, meiner Mutter vor. Die aber will es nicht hören: „Warum ist denn heute selbst in den Liedern immer nur von Tod und Grab die Rede?“

„Aber den Soldaten auf ihren Pferden scheint es doch zu gefallen!“ sage ich.

Nachdenkliches Schweigen der Mutter. Wir leben in einer Männerwelt. Ein Soldat, der bei uns zu Hause einquartiert ist, behauptet, es gebe im Wechsel der Geschichte männerbetonte Zeiten und frauenbetonte Zeiten. Auf ein Warum kennt er keine Antwort. „Der Wind weht ja auch aus unterschiedlichen Richtungen und bringt mal Wärme und mal Kälte, Zur Zeit weht ein rauer Wind in Europa, der sich bald zum Sturm steigern wird. Von den jetzt hier einquartierten Kameraden werden nur wenige das Ende des Krieges erleben. Ich bin Skeptiker und rechne persönlich nicht mit einem guten Ende.“ Die meisten seiner Kameraden denken nicht wie er, sondern warten voller Zuversicht und Ungeduld auf einen siegreichen Feldzug hier im Westen.

Vater schreibt auch, sie sollten in der Villa des Weltkriegsschriftstellers Dingshofer (Name geändert) einquartiert werden (er schrieb die bekannten Bücher Gespenster am Toten Mann, Feldgrau schafft Dividende und Kameraden vom Zelt 27). Dessen Frau habe dies aber wegen der schmutzigen Stiefel mit Erfolg abgelehnt. „Und dabei ist ihr Mann doch in einer Propagandakompanie der Wehrmacht tätig“ schreibt Vater, „und berichtet über die Heldentaten des deutschen Soldaten“.

Die Berichterstatter für Rundfunk, Presse und Wochenschauen sind in besonderen Einheiten zusammengefasst, den sogenannten Propagandakompanien. „Da steckt doch bestimmt wieder der Göbbels dahinter“, sagt Mutter.

Ich aber rege mich ganz schön über das Verhalten der Frau des Schriftstellers auf.

 

Von jetzt an wird es täglich zur Abendstunde Frontberichte geben. Da wird von Flügen der Fernaufklärer bis weit ins französische Hinterland, von U-Boot-Fahrten rund um Großbritannien, von der Wacht am Westwall usw. berichtet. Zum Schluss heißt es dann: „Sie hörten die Frontberichte der Propagandakompanien“. Den Begriff Kompanien  betrachte ich als irreführend, weil die Berichterstatter doch einzeln den Heeresverbänden, der Flotte und der Luftwaffe zugeordnet sind. Es gibt, wie ich bald bemerke, aber keine Berichte von Verbandsplätzen und aus Lazaretten.

In diesem Zusammenhang fällt mir der Bericht eines Soldaten der ehemaligen Grande Armee ein, den ich  bei der staatlich verordneten Entrümpelungsaktion auf unserem Speicher (Dachboden) fand, wonach  die blutigen Attacken der Kavallerie und die in dichten Reihen vorgetragenen opferreichen Angriffe der Infanterie in den napoleonischen Kriegen stets von lautem Trommeln und gellenden Hörnerklängen begleitet waren. Dieser musikalische Schlachtenlärm sollte zwar einerseits Mut machen, aber andererseits, und das vor allem, das Schreien und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden übertönen. Nur so konnte Napoleon seine vielen Kriegszüge erfolgreich gestalten. Als die Schotten von den Engländern besiegt waren, verboten diese in ganz Schottland das Spielen des Dudelsacks, weil er von den Siegern als wichtige, Mut und Widerstandswille erzeugende Waffe eingestuft wurde.

 

Aber in dem jetzt begonnenen Krieg spielen Trommeln, Hörner und Dudelsäcke als Waffen keine Rolle mehr.

 

Volksmusik am Sonntagvormittag

 

In der Zeit zwischen dem Ende des kirchlichen Hochamtes und dem Mittagessen bringt der Großdeutsche Rundfunk Sonntag für Sonntag das volkstümliche Mittagskonzert. Dann singen der beeindruckende Bass Wilhelm Strienz und der Kölner Bariton Willy Schneider die bekanntesten Volks- und Wanderlieder. Während sich Schneider auf die Rhein-Wein- Lieder und das Schwalbenlied verlegt hat, singt Strienz zum Abschluss das Riesengebirgslied:

Blaue Berge, grüne Täler,                         O mein liebes Riesengebirge

mittendrin ein Häuschen klein.                   wo die Elbe so heimlich rinnt,

Herrlich ist dies Stückchen Erde                  wo der Rübezahl mit seinen Zwergen

und ich bin ja dort daheim                         heute noch Sagen und Märchen spinnt.

Als ich einst ins Land gezogen,                   Riesengebirge, deutsches Gebirge,

hab’n die Berg’ mir nachgesehn,                 meine liebe Heimat du!

mit der Kindheit, mit der Jugend,                (Die  rechte Seite ist der Refrain

wuss’t selbst nicht, wie mir geschehn           zu den insgesamt 4 Strophen.)

 

Dieses Lied handelt von einem Fleckchen Erde, das, wie die Eifel, auch an Deutschlands Rande liegt, nur eben auf der anderen Seite. Es ist sonderbar: Bei diesem, mit tiefer Bassstimme vorgetragenen Lied habe ich immer ein Gefühl von Wehmut und ewigem Verlust eines Teiles Deutschlands. Dies verstärkt sich in den kommenden Jahren, wenn die Deutsche Wehrmacht aus den Tiefen Russlands wieder zur deutschen Reichsgrenze zurückfluten wird. „...deutsches Gebirge“?

 

:

 

 



Friedliches Miteinander

Welch eine gewaltige Streitmacht ist hier bei uns in der Eifel in den Wintermonaten 1939/40 zusammengezogen worden. Diese Truppen kampieren aber nicht (oder nur zu einem geringen Teil) in Zelten, sondern in den Wohnungen, Höfen und Stallungen der Eifelbewohner, die, ihrerseits mit reichlich Kindern gesegnet, in räumlicher Enge leben müssen und auch zu leben gewohnt sind. Allerdings sind inzwischen viele Väter und Söhne der Eifelfamilien ebenfalls als Soldaten eingezogen worden, und das schafft Raum für zusätzliche Einquartierung, die auch nicht lange auf sich warten lässt. Und der Umstand, dass die eigenen männlichen Familienangehörigen irgendwo in Großdeutschland (Österreich, jetzt Ostmark genannt, und das Sudetenland gehören ja jetzt dazu) oder den besetzten Gebieten Protektorat Böhmen und Mähren und Generalgouvernement Posen und Westpreußen in fremder Umgebung auf Verständnis der dortigen Gastfamilien angewiesen sind, schafft die notwendige Bereitschaft zu friedlichem Miteinander.

Es kann ja sein, dass die Masse der einquartierten Soldaten mit abnehmendem Abstand zur Westgrenze Deutschlands gewaltig anschwillt und fast be- und erdrückende Ausmaße annimmt. Aber hier in unserem Dorf ist mir, von einigen Techtelmechtel abgesehen, kein Problemfall zu Ohren ge-kommen. Einige Soldaten erzählen uns, sie seien hier im Rheinland, trotz der enormen Belastung für die Bevölkerung, weit freundlicher aufgenommen worden, als beim großen Herbstmanöver in Mecklenburg kurz vor Kriegsausbruch. Dort habe man in den Dörfern manchmal vergeblich um ein Glas Wasser gebeten. Wird erzählt!



Bereitstellung wohin man schaut: Panzerspähwagen
Kradschützen auf der Schönauer Dorfstraße

Das erste Haus auf der linken Seite ist mein Geburts- und Vaterhaus. Hier kam ich am 05. November 1927 zur Welt.

Letzte Vorbereitungen vor dem Beginn des Westfeldzuges.

Die motorisierten Verbände für den Sichelschnitt von der Eifel durch die Ardennen bis zur Kanalküste in Frankreich beziehen ihre Positionen.

Hier wird noch schnell eine Übung zwischengeschaltet:

Die Motorradfahrer biegen in Fahrtrichtung nach links ein, während die jeweils beiden anderen Soldaten zur anderen Seite abspringen und in Deckung gehen. Ich habe mich mit meiner Vorwitznase hinter die Kameramänner der Deutschen Wochenschau geschlichen und erlebe den Aufmarsch der Kradschützen genau so, wie es dieses Bild vermittelt.

Siehe auch: Themenseite "Schönau (Bad Münstereifel)"

Der Sturm bricht los



Morgen! Morgen?

Das mit dem Glas Wasser habe ich im Grunde meines Herzens nicht glauben wollen, denn es sind viele Mecklenburger und Pommern bei der jetzigen Einquartierung, und gerade sie erweisen sich, nachdem wir uns besser kennengelernt haben, als die besten Freunde und willigsten Helfer bei unserer Feldarbeit. Und morgen werden sie alle weg sein und in Eilmärschen nach Westen brausen. Morgen? Wieso morgen? Ja, ich weiß es und das kommt so:



Rommel

Generalfeldmarschall Rommel liegt bis zum 9. Mai 1940 im Jagdhaus Schönau   (noch ist er Generalmajor)                                                                 

 

Mai 1940, Westoffensive

Der mit dem Überfall auf Polen am 01. September 1939 geborene Blitzkrieg steht jetzt, nach der Invasion in Dänemark und Norwegen (09. April 1940),  im Westen Europas bevor.

Ruhe vor dem Sturm           

Am 09. Mai 1940 liegt eine beklemmende Stille in der Luft. Es ist einer jener Frühlingstage, an denen die wärmenden Sonnenstrahlen eine Thermik erzeugen, die alle Laute dämpft und wie von weither kommend erklingen lässt. Seit ein paar Wochen befindet sich zusätzlich zu den bereits länger einquartierten Truppen eine Panzerspähwageneinheit im Dorf.

 

Und hier muss ich (nachträglich) etwas kaum Glaubliches einschieben: Ich frage also jetzt, während ich meine Erinnerungen niederschreibe, meinen acht Jahre jüngeren Bruder Wilfried Weber, ob er wisse, wie seinerzeit die Panzerspähwagen aussahen. Und dann berichtet er dies: „Die Panzerspähwagen hatten acht Räder, also vier auf jeder Seite, eine sargähnliche Form mit Einstieg in der Wagenmitte kurz unterhalb der hervorstehenden Längskante. Die große Antenne auf dem Dach hatte die Form eines flach liegenden Stromabnehmers der Straßenbahn. Ferner befand sich ein mit Deckel verschließbarer Panzerturm auf dem Dach. Das Fahrzeug hatte zwei Führerstände, so dass es, ohne zu wenden, rückwärts fahren  konnte. Die Besatzungen trugen die schwarze Baskenmütze oder das Barett der Panzersoldaten. Die Fahrzeuge waren sehr schnell und geräuscharm. Ich sehe den Panzerspähwagen, der auf dem Hof unseres Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, heute noch deutlich vor mir.“ Meine Frau, der ich dies erzähle, fragt, wie alt damals im Jahr 1940, mein Bruder gewesen sei, und ich muss, jetzt selber fast ungläubig, antworten: Fünf Jahre“. So stark und unauslöschlich waren also die Eindrücke, die wir ohne viel Abwechslung herangewachsenen Eifeljungen durch diesen gewaltigen Aufmarsch empfingen.

Soldaten und Dorfbewohner kennen sich recht gut und pflegen eine gewisse Freundschaft. Die Soldaten essen mit den Gastfamilien gemeinsam und tauschen mitunter das reichhaltige Kommisessen gegen Selbstgemachtes der Kleinbauern aus. Die hierdurch entstandene Vertraulichkeit scheint heute nicht zu klappen. Die Soldaten flüstern sich hin und wieder Geheimnisse zu, die meinem Freund und mir dank unserer Bemühungen, als uninteressierte Dorfjungen zu wirken, doch halbwegs zu Ohren kommen. Eines ist sicher: Heute abend um 18 Uhr muß die bei uns einquartierte Einheit hinter einer Scheune zum Empfang eines Marschbefehls antreten. Wir gehen bereits eine Stunde vorher in diese Scheune und verstecken uns dort hinter aufgestapeltem Brennholz.     Dann kommt der aufregende Augenblick. Krampfhaft ein Husten oder Räuspern unterdrückend, ein Ohr an der Lehmwand des Fachwerks, hören wir Fetzen des von einem Offizier vorgelesenen Marschbefehls, der mit den Worten beginnt: „Soldaten der Westfront!“ Das ist es! Wir verstehen nicht alles, aber doch soviel, daß die Einheit in der kommenden Nacht bis zur Belgischen Grenze vorrückt und diese um 5.30 Uhr morgens bei Büchsenlicht überschreiten wird.

Nachdem die zu strengstem Stillschweigen verpflichteten Soldaten weggetreten sind, geloben wir uns, unser Geheimnis keiner Menschenseele zu verraten, befürchten wir doch, ansonsten an die Wand gestellt zu werden, wir, zwei zwölfjährige Jungen, im kleinen Ort aufgewachsen und mit wenig Lebenserfahrung. Aber wir halten auch unser Geheimnis für so wichtig, daß ein Ausplaudern, so glauben wir, die bevorstehende Offensive der Deutschen Wehrmacht gefährden könnte. Denn soviel ist uns klar: Morgen beginnt der deutsche Angriff im Westen. So gehen wir getrennt nach Hause, mit einer Mischung aus Schuldgefühl und aufgeregter Erwartung der bevorstehenden Ereignisse. Auf dem Heimweg wird mir einiges bewußt. Während der letzten Monate war der Himmel über der Eifel voller Flugzeuge, Nahaufklärer vom Typ Henschel und langsam fliegende Kurierflugzeuge vom Typ Fieseler Storch kreisten tief über dem Dorf, Fernaufklärer Dornier Do 17, fliegende Bleistifte genannt, kamen von jenseits der Grenze zurück, in großer Höhe flogen die Jagdflieger Messerschmitt Me 109 Wache. Wir kannten sie alle.

Heute dagegen ist keine einzige Maschine am fast wolkenlosen Himmel zu sehen. Die im Dorf stationierten Soldaten haben Ausgehverbot und sitzen in Warteposition. Das ist die mir sprichwörtlich bekannte Ruhe vor dem Sturm.

Und dann ist mir noch etwas aufgefallen. Den Panzerspähwagen hatte man über die Motorhaube gelbe Tücher gespannt, damit sie so für die deutschen Flugzeuge erkannt und nicht angegriffen wurden. Diese gelben Tücher wurden heute gegen Tücher in der Art der Hakenkreuzfahnen ausgetauscht. Die Soldaten munkelten, die Alliierten hätten ihre Fahrzeuge auch mit gelben Tüchern versehen, um unsere Flugzeuge zu täuschen.

Es geht also wirklich los! Meine Aufregung ist kaum noch zu ertragen.

Abends liege ich im Bett, auf jedes noch so kleine Geräusch achtend, kaum fähig einzuschlafen. Die Stille wird hörbar durch kleine Unterbrechungen: Das kurze Klicken eines Panzerdeckels, Das Klappern einer Gasmaske, ein nervöses Hüsteln hinter vorgehaltener Hand. Kaum hat mich der Schlaf übermannt, werde ich durch lautes Rufen wieder geweckt. Lautstark verabschiedet sich unsere Einquartierung, diesmal ohne Rücksicht auf den Geheimhaltungsbefehl, mit den Worten“: Lebt wohl, es geht los“. Dann springen überall im Dorf die Motoren der Panzerspähwagen an. Nachdem das Aufheulen und Brummen der Motoren langsam verebbt, verbleibt ein monotones Geräusch:

Ein nicht enden wollender Strom von Militärfahrzeugen            Durch den unteren Teil des Dorfes und von dort aus bergan über die Eifelhöhen in Richtung Westgrenze bewegt sich ein Heerwurm, der drei volle Tage andauern wird. Irgendwann schlafe ich wieder ein. Es ist ein unruhiger Schlaf. Dann wecken mich die Sonne und das Dröhnen der Motoren der vom Feindflug zurückkehrenden Sturzkampfbomber. Ich stürze zum Radioapparat. Nur Marschmusik, sporadisch unterbrochen von der Mitteilung: „Wir erwarten in Kürze eine Sondermeldung aus dem Führerhauptquartier von weitreichender Bedeutung“. Aufgeregt gehe ich zur Schule, an der vorbei sich ein nicht endenwollender Strom von Militärfahrzeugen bewegt.



Unser Herr Lehrer, ein ehemaliger Soldat des 1. Weltkrieges, steht bewegungslos am Fenster und schaut, sicherlich voller Stolz, auf diesen Aufmarsch. Dann tritt er vor die Klasse und erklärt den Unterricht für beendet. Ich sehe ihn, ein Leben lang, mit schnellem Schritt und wehenden Rockschößen zu seiner Wohnung eilen. So wie er, eile auch ich nach Hause zum Rundfunkempfänger und dann kommt nach weiterer Marschmusik und mehrmaliger, die Spannung verstärkender Vorankündigung die Meldung: „10. Mai 1940. Hier ist der Großdeutsche Rundfunk. Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Nach längerem mehrmonatigen Warten ist heute morgen das Deutsche Westheer auf  breiter Front                                                      

zum Angriff angetreten und hat die Grenzen der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Frankreichs überschritten. Unsere Truppen befinden sich an allen Frontabschnitten im zügigen Vormarsch. Weitere Sondermeldungen werden im Laufe des Tages erwartet.“ Marschmusik! Und dann wird ein neues Lied gesendet:

 

Kamerad wir marschieren im Westen,

mit den Bombengeschwadern vereint.

Und fallen auch viele der Besten,

wir schlagen zu Boden den Feind.

Vorwärts, voran, voran, über die Maas, über Schelde und Rhein,

marschieren wir siegreich nach Frankreich hinein,

marschieren wir, marschieren wir nach Frankreich hinein.



Mein Freund und ich treffen uns in der Dorfmitte. Am Rande der Aufmarschstraße sehen wir Schilder, die noch in der Nacht angebracht worden waren: DG 7, Durchgangsstraße 7. Diese „Straße“ ist nicht mit der Reichsstraße 51, die als DG 6 den schnellen Verbänden vorbehalten ist, identisch. Sie führt vielmehr über Nebenstraßen, die teils  als wassergebundene Schotterstraßen 

Transportflugzeuge Ju 52

Vom Flughafen Butzweilerhof in Köln gestartete Transportflugzeuge bringen in der Nacht zum 10. Mai 1940 Luftlandetruppen zu wichtigen Brücken und Festungswerken, die im Sturm genommen wurden.

Vom „Feindflug“ zurückkehrende Sturzkampfbomber (Stukas) vom Typ Junkers Ju 87.

Sie landen gleich bei Odendorf in der Nähe von Euskirchen, wo sie in den frühen Morgenstunden  gestartet waren.



Bild auf dem Schutzumschlag des Buches „Der Zweite Weltkrieg“ von Christa Manner



ganz schön Staub aufwirbeln lassen. Die Ausfallstraße aus unserem Dorf ist so steil, dass man Bauern mit Traktoren aus dem Dorf verpflichten muss, einige der schweren überladenen Lastwagen der Wehrmacht, die es nicht allein aus eigener Kraft schaffen, hochzuschleppen. Und dann laufe ich wieder nach Hause. Wegen des ununterbrochenen Durchmarschs immer neuer Wehrmachtseinheiten ( nach den motorisierten Verbänden kommen die bespannten Artillerie, die Nachschub- und Versorgungstruppen usw.) ist an Feldarbeit mit unserem Ochsengespann nicht zu denken. Also setze ich mich immer wieder, mit einer unbeschreiblichen Mischung aus Stolz, Siegesgläubigkeit und Neugier, wie sie nur einem Jungen meines Alters zu Eigen sein kann, an den Radioapparat. Jetzt ist selbst beim „Großdeutschen Rundfunk“ ein von Siegesgewißheit überschäumendes Programm, die in der Rundfunkzeitschrift ausgedruckten Sendungen verdrängend, eingeschoben worden. Es werden fast ausschließlich die historischen Märsche „aus Deutschlands großer Zeit“ gesendet, also jene, die auf die Deutschen eine verführerische Wirkung ausüben. Mir stehen vor Rührung und Begeisterung die Tränen in den Augen. Dann wieder eine der in kurzen zeitlichen Abständen angekündigten Sondermeldungen (teils verfrüht, denn die Maas war noch nicht erreicht): „Die Maas wurde an mehreren Stellen überschritten“ und: „In Belgien wurde  das ehemals deutsche Gebiet von Eupen-Malmedy zurückerobert.“ Nachdem am frühen Morgen noch das Grollen von Geschützfeuer von einem lauen Westwind zu uns herübergetragen wurde, ist es jetzt, am späten Vormittag nicht mehr zu hören. Der Krieg, soeben erst in seiner ernsthaften Form begonnen, verzieht sich in Windeseile nach Westen.

 

Eine bedrohlich wirkende Wolke am Himmel kommt auf uns zu

Fasziniert beobachte ich die ohne Unterbrechung vorbeifahrenden Kolonnen. In den offenen Kübelwagen der motorisierten Verbände sitzen die Soldaten mit aufgesetzten Stahlhelmen. Dazwischen fahren die sogenannten Kradschützen auf schweren Motorrädern mit Seitenwagen. In den Letzteren sitzen die MG-Schützen hinter den aufmontierten Maschinengewehren. Dann kommen zahlreiche Lastkraftwagen, die Soldaten auf Bänken sitzend transportieren, die eng auf den Ladeflächen festmontiert sind. Und dreiachsige Zugmaschinen vom Typ Henschel ziehen Panzerabwehrkanonen hinter sich her. Motorisierte Feldküchen, Instandsetzungskolonnen, Rotekreuzwagen, Munitionstransporter usw.   rumpeln an uns vorbei  Das gewaltige Dröhnen dieser Militärmacht lässt keine anderen Geräusche an mein Ohr dringen. Doch irgendwann schaue ich zum blauen Frühlingshimmel hoch, vor dem jetzt durchsichtige Schleierwölkchen, wie mit einem Malerpinsel angedeutet, zu schwimmen scheinen. Und dann fährt mir der Schreck in sämtliche Glieder: Über diesen Schleiern schwimmt eine gewaltige Armada schwerer Bombenflugzeuge genau auf uns zu. Man hört sie nicht! Sie werden von den Motorengeräuschen hier am Boden übertönt. Und gerade das wirkt so gespenstig. Irgendwann hatte ich sie erwartet. Denn es ist doch kaum anzunehmen, dass der Gegner den Aufmarsch am Boden ohne einen gewaltigen Gegenschlag seiner Luftwaffe so einfach geschehen lässt. Wenn diese bedrohliche Wolke am Himmel ihre Bomben über uns ablädt, stockt hier der ganze Aufmarsch und unser Dorf wird in Trümmern versinken. Da sind sie also!

Doch jetzt ziehen sie tatsächlich über uns hinweg und dann erkenne ich auch, aufatmend, die Balkenkreuze auf den Unterseiten ihrer Tragflächen. Aber diese kurzzeitige Skepsis ließ in mir eine Ahnung aufkommen von einer möglichen Ausuferung des Krieges über die militärischen Fronten hinweg bis tief hinein in die Länder der kriegführenden Nationen.   

 

Siegesgewissheit       

Kurze Zeit später kommen in großer Höhe viele weitere Geschwader von Kampfflugzeugen (so nennt man die Bomber) vom Typ Heinkel He 111 vom Einsatz zurück. Die Maschinen blitzen in der Sonne vor einem tiefblauen Frühlingshimmel. Sie fliegen eng aufgeschlossen, wie auf einer Parade. „Wir sind des Reiches leibhaftige Adler“ tönt es aus einem Volksempfänger. Feindflugzeuge sind nicht zu sehen. Siegeszuversicht breitet sich aus. Wir Jungen neigen zu einer gewissen Überheblichkeit. Die jungen deutschen Soldaten fahren dahin, gut ausgebildet, diszipliniert, mit lachenden Gesichtern. - So sehen Sieger aus!

Auf der anderen Seite der Front empfindet man hingegen Resignation. Der deutsche Angriff kommt überraschend und mit einer nicht erwarteten Wucht. Warum unsere Bodentruppen unbehelligt von französischen Flugzeugen operieren können, erfahren wir in den Abendnachrichten. Da heißt es lapidar: „Im Laufe der vergangenen Nacht und des heutigen Tages wurde die französische Luftwaffe praktisch außer Gefecht gesetzt. Der Feind verlor rund 500 Flugzeuge. 95 Maschinen wurden bei Luftkämpfen abgeschossen, der Rest wurde am Boden zerstört“. Dieses „Der Rest wurde am Boden zerstört“ wird zu einer  für Jahre gängigen Redensart.



Jagdflugzeug Messerschmitt Me 109

Notgelandet

Am nächsten Tag kommt mein Freund und weiß von zwei notgelandeten deutschen Jagdflugzeugen vom Typ Me 109 zu berichten. Wir folgen der Beschreibung eines Bauern und durchqueren einen Wald. Kaum treten wir aus diesem hervor, sehen wir die beiden Maschinen, die beim Rückflug vom Einsatz wegen Spritmangels eine Bauchlandung auf diesem frisch gepflügten Acker machen mußten. Bauchlandung bedeutet verbogene Propellerblätter. Aber sonst ist noch alles heil. Dennoch bin ich bitter enttäuscht, hatte ich mir doch die Abmessungen der Flugzeuge weit größer vorgestellt. Zwei Wachtposten geben bereitwillig Auskunft und sind über unsere technischen Kenntnisse erstaunt. Eifeljungen!

Die nächsten Tage bringen ein fast sommerliches Wetter mit blauem Himmel und Temperaturen über 20 °C. In den Wehrmachtsberichten tauchen immer neue Städtenamen auf, nach den holländischen und belgischen jetzt auch französische. Und dann die mir von den Schilderungen meines Vaters her bekannten Schlachtenorte des Weltkriegs von 1914/18. Die gewaltige deutsche Streitmacht braust also im Eiltempo von Sieg zu Sieg und somit immer weiter von uns fort. Bei uns in der Eifel ist jetzt wieder die Ruhe der Vorkriegsjahre eingekehrt. Aber mir kommt es so vor, als ob das Geräusch dieser nach Westen eilenden Streitmacht aus weiter Ferne von dem immer noch vorherrschenden lauen Westwind bis zu uns herübergetragen würde. Schule und Feldarbeit sind wieder in ihrer bekannten Eintönigkeit zurückgekehrt. Und in der Feldarbeit haben wir Kinder unseren in einer  Feldbatterie nach Westen reitenden Vater zu ersetzen. Doch dann kommt Hilfe!

 



Mit erhobenen Händen: Französischer Soldat ergibt sich.

Feldzug im Westen oder „Der eine so, der andre so“

 

Und jetzt sind sie fortgezogen,

reitend, fahrend und geflogen,

lachend, singend, siegbereit.

 

Mädels weinen jetzt verlegen,

schöner Abenteuer wegen,                           

die sie hier verlebt zu zweit.

 

„War er nicht ein fescher Reiter    

oder gar ein Hauptgefreiter?

Wird er schreiben mit der Zeit?“

 

Jungen kennen nicht die Sorgen,                                         

sehn sich als Soldat von morgen,

mit `nem schicken Ehrenkleid.

 

Mütter und die Ehefrauen,

wollen still auf Gott vertrauen,

bleiben stark in ihrem Leid.

 

Auf dem Vormarsch die Soldaten,

treue, scheue, Herzpiraten,

singen fröhlich: „Heut ist heut“.



Der Sichelschnitt
Die Kanalküste bei Étretat

Erste Kriegsgefangene im Dorf         

Einige Wochen später kommen französische Kriegsgefangene          

ins Dorf. Sie werden von einem Wachtposten geführt, tragen noch ihre Uniform und haben auf dem Rücken die Buchstaben PG aufgenäht: Prisonnier de guerre. Da mein Vater Soldat ist, bekommen wir einen perfekt deutsch sprechenden Franzosen aus Paris zugewiesen, dessen Mutter Elsässerin ist und dessen Vater aus Luxemburg stammt. Er war früher als Fremdenlegionär in Nordafrika, als Voraussetzung für die Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft. Wir sind viel zusammen bei der Feldarbeit und ich lerne durch ihn eine für mich völlig neue Welt kennen. Und er erzählt mir von der Größe der französischen Besitzungen in Afrika und auch von Fata Morganas („Mitten in der Wüste sahen wir am Himmel die Stadt Oran“)und wie man Affen fängt. Letzteres schildert er so: „Die Affen sitzen auf einem Baum und beobachten interessiert, was wir tun. Wir binden eine Gießkanne an den Stamm dieses Baumes, entfernen den Sprengkopf und stecken ein Stück Zucker in die frei gewordene Öffnung. Ein Affe steckt eine Vorderpfote (sagen wir Hand) in diese Öffnung, ergreift den Würfelzucker und läßt diesen nicht mehr los. Seine, das Stück Zucker festhaltende Faust ist so groß, dass er sie nicht mehr herausziehen kann. Nun springt er wie im Veitstanz mit der am Baumstamm festgebundenen Gießkanne um den Baum herum und ist mit Leichtigkeit einzufangen.“ Durch derartige Erzählungen und das Schildern der Größe der französischen Besitzungen in Afrika und Indochina schwindet nach und nach die Überheblichkeit, die ich am 10. Mai, beim Beginn des Westfeldzuges angesichts des perfekten Aufmarsches unserer modernen, scheinbar unschlagbaren Armee empfunden hatte.



Landschaft mit Steinbrücke (eigene Zeichnung)

Ein Wachtposten bringt die Kriegsgefangenen täglich morgens zu den Bauern und holt sie abends wieder ab. Sie schlafen in einem als Gefangenenlager umfunktionierten Jugendheim. Der Wachtposten, ein Kunstmaler, ißt mittags und abends bei uns zu Hause; von ihm lerne ich das Malen in freier Natur. Wir gehen oft gemeinsam aus, um passende Motive zu suchen und, nebeneinander stehend, Schwarz-weißbilder zu malen. Natürlich kann die Qualität meiner Bilder nicht mit jener verglichen werden, die ein in ganz Deutschland geschätzter Maler produziert.  Es ist dennoch eine für mich wunderbare, erfahrungsreiche Zeit. Die weite Welt der Fremde und die Kunst sind zu mir in unser kleines Dorf  gekommen. Dieses liegt in einem Tal und zählt etwa 100 Häuser und 500 Einwohner. Für mich als kleinen Jungen begann die Welt erst im nahegelegenen Städtchen mit Sackbahnhof. Wenn der Wind den Pfeifton einer Lokomotive zu uns trug, bekam ich Fernweh und den Wunsch, auszubrechen und die weite Welt kennenzulernen. Und dieses Fernweh wird sich nie mehr ganz legen. Schon drei Jahre später, bei der Bahnfahrt zum Wehrertüchtigungslager in Bastogne in den belgischen Ardennen im Herbst 1943 wird es wieder in mir aufsteigen und die Empfindungen des Fremden oder gar Feindlichen überwuchern.

Unser Michel

Die französischen Kriegsgefangenen gehören bald zum Dorfbild. Wir kennen sie alle mit Namen und verständigen uns mit ihnen schlecht und recht unter Zuhilfenahme unserer Hände. Sie legen großen Wert darauf, daß wir uns mit ihnen in Hochdeutsch und nicht in unserem Eifeler Dialekt unterhalten, möchten sie doch auch einige brauchbare Sprachkenntnisse mit nach Hause nehmen. Doch unser Michel  aus Paris, der genau so fließend deutsch spricht wie ich, macht sich einen Jux daraus, einige typisch altfränkische Eifeler Ausdrücke, wie sie mein Großvater noch braucht, zu lernen und anzuwenden. Aber Michèl hat auch einige Macken, was seine Verwendbarkeit in der Landwirtschaft anbelangt. Er hat nach seinen eigenen Angaben in Paris in einem Hotel zweitrangige Arbeiten verrichtet, wobei er wahrscheinlich in der Hauptsache den Besen zur Hand nehmen mußte.

Mutter versucht, ihm das Mähen mit der Sense beizubringen. Da steht er nun, hoch aufgerichtet, mit steifem Kreuz und erwischt mit der Sense folglich nur die Spitzen der hochgewachsenen Halme. „Ich bin zu groß, Frau Weber“ sagt er allen Ernstes. Ja, so ist er, unser Michèl, aber treuherzig. So glaubt er ohne weiteres Mutters Schilderung, dass man bei der Jagd dem Hasen nur Salz auf den Schwanz streuen muß, um ihn todsicher zu fangen. Das erzählt er dann am selben Abend im Lager seinen französischen Kameraden. „Gestern abend war ein Aufruhr in unserem Lager“, sagt am nächsten Tag der Wachtposten, „man wollte Michèl verprügeln. Er muß etwas zum Besten gegeben haben, das von den übrigen Franzosen als Verletzung ihrer Ehre empfunden wurde. Da war von einem Hasen die Rede.“

Tapferes Eingreifen einer einfachen Lehrerin          

Unser Miteinander hat sich bis zum Winter soweit normalisiert, daß wir mit den  Gefangenen und dem Wachtposten abends nach getaner Arbeit gemeinsam Schlitten fahren. Die für die Schuljahre 1 bis 4 zuständige Lehrerin unseres Dorfes, eine stramme Nationalsozialistin, sieht das mit Abscheu. Als wir unserem Michèl eines Tages in ihrem Beisein eine Ansichtskarte unseres Dorfes als Andenken schenken, moniert sie dies mit dem ernst gemeinten Hinweis, einem Feind dürfe man keine zur Spionage tauglichen Unterlagen an die Hand geben. Man stelle sich vor, welches Unheil diese unschuldige Ansichtskarte eines zwischen bewaldeten Bergen, Wiesen und Feldern still hingeduckten Dorfes heraufbeschworen haben könnte!  Dieses „Unheil“ wurde also in sprichwörtlich letzter Minute durch das beherzte Einschreiten einer einfachen Lehrerin verhindert.

 

Helden und Heldinnen braucht das Land!

 



Mein Heimatdorf Schönau bei Münstereifel

Es muss doch jeder einsehen, dass diese Ansichtskarte, dem „Feind“ durch unseren Michel in die Hände gespielt, eine Katastrophe ausgelöst hätte.

 

Und genau das veranlasste unsere Lehrerin  zu  ihrem patriotischen Eingreifen.



Die Zeit der „schnellen Feldzüge“        

Wenn ich jetzt, nach dem Ende des Polenfeldzuges und des Frankreichfeldzuges, der lediglich 6 Wochen gedauert hatte, über diesen Teil des Krieges nachdenke, der so ganz anders verlaufen ist, als der früher von meinem Vater geschilderte 1. Weltkrieg, bei dem man irgendwo  „lag“, frage ich mich, ob dies jetzt ein richtiger Krieg sei. „Wo lagst du denn 1917/18?“ So, oder so ähnlich waren immer wieder die Fragen, die sich die in die Jahre gekommenen Weltkriegsteilnehmer (z.B.) beim Haarschneiden an den Samstagabenden bei uns zu Hause einander stellten. Und dann ergab die Antwort stets, dass man irgendwo „lag“. Die Kämpfe fanden auf der Stelle statt. „Ja, wir lagen am Schmettedam“. (Ich werde es später bei meinen friedlichen Frankreichreisen als Chemin des Dames kennenlernen.) Man lag, so hörte ich immer wieder, an der Somme, vor Verdun, im Argonner Wald, in der Champagne, in Flandern usw. und, nach einem makabren Witz, am St.- Labbes- Kanal.

Und jetzt, bei diesem Feldzug, „lag“ man nirgendwo. Man marschierte, ritt und fuhr, fast ohne Pause, Tag und Nacht, von Sieg zu Sieg. Das hatte ich nicht erwartet und ich empfinde es als eine seelische Befreiung. Der seit 1918 nie ganz gemilderte Schmerz über eine verlorene Jugend im Schützengraben, über einen sinnlosen, erfolglosen und scheinbar unehrenhaften, zumindest aber ruhmlosen  Kampf, ist mit einemmal erloschen, getilgt durch den Schneid einer stürmenden jungen Wehrmacht. Einfach so, wie man mit einem Lappen über eine Schultafel wischt. Das war’s. Mehr nicht! Keine Schadenfreude gegenüber dem bezwungenen Gegner!

Nicht „Argonnerwald um Mitternacht, ein Pionier steht auf der Wacht“, sondern „Über die Schelde, die Maas und den Rhein, stoßen wir Panzer nach Frankreich hinein“. Eben ein ganz anderer Krieg.

 

Das Frankreich unter dem jetzt mit der Regierung betrauten greisen Marschal Pétain scheint sich, so sagt es unser Kriegsgefangener Michel,  zum Freund Deutschlands zu entwickeln. Mit diesem frommen Wunsch gehe ich in eine dunkle, ungewisse und schon bald ganz anders verlaufende Zukunft. Und mit der zunehmenden Reife kommt das kritische Denken.

 



"Antwort auf ihre Bitte um Auskunft"

Französische Kriegsgefangene

Der Blitzkrieg im Westen ab dem 10.Mai 1940 bescherte den Deutschen eine gewaltige Zahl von französischen Gefangenen. Viele kamen zunächst in große provisorische Lager und später in reguläre Lager im Umfeld ihres Arbeitseinsatzes. Im vorstehenden Falle wird eine Bitte um Auskunft über den Verbleib eines französischen Gefreiten beantwortet. Hiernach kann die Adresse des Kriegsgefangenen erst nach dessen Überführung in ein reguläres Lager genannt werden.

Die Bitte um Auskunft stammt vom 31. Juli 1940.

Angeblich war der Gefreite am 02. April 1940 *) in einem provisorischen Lager. Das kommt mir komisch vor, weil die deutsche Offensive erst in den frühen Morgenstunden des 10. Mai 1940 begann. Vorher war die Anzahl der französischen Gefangenen fast gleich Null; sie bedurfte keines provisorischen Lagers.

*) Herr Peter Leuschen korrigiert mich im Gästebuch hier zu Recht: Das Wort, das ich als avril (April) gelesen habe, heißt in Wirklichkeit août (August). Vielen Dank!

Anzahl der Gefangenen

Deutschlands erfolgreicher "Blitzkrieg" gegen Frankreich ließ der deutschen Wehrmacht im Sommer 1940 etwa 1.850.000 Kriegsgefangene in die Hände fallen. In den ersten Wochen wurden die Elsässer und Lothringer in die Heimat entlassen und nicht selten kurz darauf zur Wehrmacht eingezogen. Verletzte und kranke Gefangene wurden freigelassen. Den Transport in die 28 Offizierslager und 69 Stammlager (Stalags) der 10 deutschen Wehrkreise traten rund 1.580.000 französische Kriegsgefangene an, was einem Anteil von 10% der männlichen erwachsenen Franzosen zu dieser Zeit entsprach und die Produktion in Landwirtschaft und Industrie Frankreichs nachhaltig beeinträchtigte.  

Von den Stalags aus wurden 95% der Kriegsgefangenen meist unverzüglich in ca. 82.000 Arbeitskommandos unterschiedlicher Größe in Industrie, Landwirtschaft und Handwerk verteilt, die oft über eigene Lager verfügten, oder in sog. Bau- und Arbeitsbataillons mit wechselnden Einsatzorten eingeteilt. Die Zahl der französischen Kriegsgefangenen, die in deutschen Lagern festgehalten wurden, sank bis Ende 1944 auf 940.000, was unter anderem auf insgesamt ca. 70.000 gelungene Fluchten* aus Deutschland, 90.747 Freilassungen im Rahmen der Relève und 324.000 Freilassungen aus anderen Gründen zurückzuführen ist. 21.000 französische Kriegsgefangene fanden bis Ende 1944 in Deutschland den Tod oder gelten als verschollen. Das letzte Kriegsjahr ließ die Zahl der Todesopfer auf ca. 37.000 ansteigen. Knapp zwei Drittel der nach Deutschland verbrachten französischen Kriegsgefangenen wurden fast volle fünf Jahre in deutscher Gefangenschaft festgehalten.

(Auszüge aus einem Archiv von Bories-Savala)

*) Die Fluchtwege der französischen Kriegsgefangenen müssen gut organisiert gewesen sein, denn die mir bekannten Fluchten gelingen restlos.

a)

An der Flucht "unserer" Franzosen aus Schönau beteiligte sich auch unser Louis aus Südfrankreich, während einige andere im Ort zurückblieben. Unter der so genannten Leitung eines ortsansässigen SA-Mannes, der, mit seinem Gewehr sinnlos in die Luft ballernd uns Jungen antrieb, den nächsten in Richtung Westen liegenden Wald zu durchkämmen, wurde nicht ein einziger Franzose gesichtet, geschweige denn aufgegriffen.

b)

In der Bohrmaschinenfabrik Hettner in Münstereifel (siehe Themenseite Intermezzo), waren u.a. auch französische Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz. Sie saßen nach Feierabend vor einem angrenzenden Lager hinter Stacheldraht und machten mit ihren von der Betriebsleitung gestellten Instrumenten tolle Jazzmusik.

Auch sie waren eines Tages verschwunden und sie wurden von den Lehrlingen des Betriebes recht lustlos im angrenzenden Wald gesucht und natürlich nicht wiedergesehen.

Wie kamen sie durch?

Bei meinen späteren Urlaubsreisen mit dem PKW durch Belgien, Luxemburg und Frankreich stellte ich mir immer wieder die Frage, wie die geflohenen französischen Kriegsgefangenen von der Eifel aus bis in die schützenden Hände der Résistance gelangt waren. Selbst im Internet habe ich keine schlüssige Antwort gefunden.

Besetzter Teil Frankreichs

Der unbesetzte Teil Frankreichs wird von Vichy aus von Feldmarschall Pétain regiert (vorerst). Später, im November 1942 wird auch dieses "Restfrankreich" von deutschen Truppen besetzt. Dies wird dann zur Selbstversenkung der Vichyflotte  in Toulon führen.

Ich bin jetzt 12 Jahre und 6 Monate alt

Meine Mutter ist nicht wenig besorgt wegen meiner Begeisterung, die sich besonders stark am 10. Mai 1940 äußerte, als ich Zeuge des gewaltigen, von mir vorhin geschilderten Durchmarsches des Deutschen Westheeres war. Und da meint meine Mutter, das sei nicht normal in meinem Alter, in dem Jungen meist ihre freie Zeit mit Indianer- oder Räuber-und-Schanditz-Spielen vertreiben würden. Doch, ich hatte mir schon immer gewünscht, in meinem Leben einmal Augenzeuge eines gewaltigen Ereignisses zu werden, das nichts mit unseren Spielereien zu tun haben würde. Und jetzt stimmt das Geschehen auch noch mit meinen innersten Wünschen überein. Wodurch aber waren diese Wünsche genährt worden? Und da kommt einiges zusammen. Schon recht früh hörte ich an den langen Winterabenden den Berichten meines Vaters von seinen Fronterlebnissen im (Ersten) Weltkrieg aufmerksam zu. Aus meinen Schullesebüchern, die ich komplett von vorne bis hinter lese, erfahre ich dann, dass diese Opfer, Strapazen und Entbehrungen unserer Väter umsonst waren, weil wir den Krieg verloren hatten und als die angeblich einzigen Kriegsschuldigen hart bestraft wurden. So lese ich, dass besonders die Franzosen unter ihrem Ministerpräsidenten Clemenceau die Hauptschuld an dieser Ungerechtigkeit trugen. Clemenceau wird im Lesebuch  regelrecht als Deutschenhasser bezeichnet.       

Clemenceau

Dann entdecke ich  in einer Illustrierten einen Artikel über den amerikanischen Präsidenten und Verhandlungsführer bei der Ausarbeitung des Friedensvertrages von Versailles, namens Wilson, der einen gerechten 14-Punkte-Plan für eine dauerhafte Friedensordnung aufgestellt habe, aber an Clemenceau gescheitert sei und resigniert habe. Er habe mit seiner Pfeife auf einen an der Wand hängenden Plan mit den Gebietsabtretungen Deutschlands gezeigt und gesagt: „Hier liegen die Wurzeln für den nächsten Krieg“. Im Westdeutschen Beobachter, unserer Tageszeitung, war in einem groß aufgemachten Artikel über den Versailler Vertrag erwähnt, die deutschen Verhandlungsführer seien über einen längeren Zeitraum bis zum Tag der Vertragsunterzeichnung regelrecht resignierend eingesperrt gewesen.
Der deutsche Graf von Brockdorff-Rantzau wird wiederum in unserem Schullesebuch erwähnt und zwar unter der Überschrift „Die Handschuhe des Grafen von Brockdorff-Rantzau“. Er habe für die erzwungene Vertragsunterzeichnung diese Handschuhe angezogen und diese nach der Unterzeichnung wieder ausgezogen und demonstrativ auf dem Tisch liegen lassen. Und da seien die Sonnenstrahlen schräg durch ein Fenster so eingefallen, dass sie die Handschuhe wie anklagend zur Geltung kommen ließen. Das macht Eindruck auf mich!
Von Hitler, den man zur Zweit nur noch „den Führer“ nennt, wird erzählt, er habe, als ihm von recht positiven Verhandlungen mit Frankreich berichtet wurde, gesagt: „Aber ich werde sie einmal noch versohlen“. Also Rachegelüste! Und nun hat dieses Versohlen stattgefunden.

Inzwischen lernte ich mehrere französische Kriegsgefangene kennen und erfuhr durch den perfekt deutsch sprechenden Michel aus Paris auch manche Details über die französischen Kolonien und die französische Kultur. Besonders das gemeinsame Arbeiten auf den Feldern, bei dem man oft zu zweit war und ungestört Gedanken austauschen konnte, brachte meine Gedanken  zunächst durcheinander und dann in eine ganz andere Richtung. Das ewige Versohlen muss endlich ein Ende haben!
Elsass-Lothringen, das zwischen dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und 1918 deutsch war, ist jetzt wieder „heimgekehrt“. Das hatte ich schon geahnt, denn in unserem Schullesebuch steht ein Lied, das wir auch lernen und singen mussten: 


O Straßburg

Und im letzten Jahr wurden noch folgende Strophen angehängt:

O Straßburg, o Straßburg,
Mir tut das Herz so weh,
Wenn ich auf deinen Türmen
Die welschen Fahnen seh’.

Lass flattern, lass rauschen
Und schwankt auch unser Glück.
O Straßburg, unser Straßburg,
wir holen dich zurück.

Die aus Elsass-Lothringen zurückkommenden deutschen Soldaten berichten uns, die dortige Bevölkerung sei mit der Eingliederung in das Großdeutsche Reich gar nicht einverstanden. Denn jetzt müssten ihre Söhne auch für Deutschland in den Krieg ziehen.
„Das war im deutschen Kaiserreich vor 1918 auch nicht anders“, sagt Tante Cilla, die betagte unverheiratete Schwester meines Vaters. Sie hatte in jungen Jahren einen Verehrer, der in Straßburg seine Lehrjahre zubrachte. Und dieser habe ihr damals folgendes erzählt: „Wenn Kaisers Geburtstag bevorstand, mussten alle Häuser Straßburgs beflaggt werden. Dann kam mein Meister und sagte: Junge, morgen ist Wonnegans (Wonne ganz war der ersten Strophe der kaiserlichen Nationalhymne entnommen und durchaus beleidigend, wenn nicht sogar bösartig verändert worden). Mach die Fahne fertig! Dann musste ich die Fahnenstange in einem stinkenden Abfallkübel hin- und herrühren und anschließend in diesem beschmutzten Zustand und ohne das schwarz-weiß-rote Fahnentuch unter dem Fenster des ersten Stockwerks seines Hauses befestigen.“
 
Kaiserliche Nationalhymne (Melodie der britischen Nationalhymne):
Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil Kaiser dir!
Fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil Kaiser dir!


Neben Elsass-Lothringen werden jetzt auch das belgische Eupen-Malmedy und das Groß-Herzogtum Luxemburg komplett ins Reich eingegliedert  Damit wird nun auch hier im Westen ein Teil des Versailler Friedensvertrages von 1919, wonach die Gebiete Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy von Deutschland abgetrennt worden waren, liquidiert. Unser Lehrer erzählt uns, dass der Führer (Hitler) bereits vor der Machtergreifung im Jahre 1933 erklärt habe, er werde diesen Vertrag zerreißen. Ich frage ihn, ob denn auch Luxemburg bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu Deutschland gehört habe. Das weiß er nicht. Am nächsten Tag kommt er wieder hierauf zu sprechen. Also: Das selbständige Großherzogtum Luxemburg wurde 1914 von deutschen Truppen auf dem Weg nach Belgien und Frankreich durchquert und blieb bis zum Ende jenes Krieges von uns besetzt. Aber es wurde nicht annektiert.
Wegen der deutschfreundlichen Haltung seiner Regierung während der deutschen Besetzung erhoben sowohl Belgien als auch Frankreich während der Friedensverhandlungen in Versailles Anspruch auf Luxemburg. Diesmal ist die luxemburgische Regierung nach England geflohen.
Der Westdeutsche Beobachter (unsere in Köln gedruckte Tageszeitung) zeigt ein Foto mit deutschen Kradschützen vor dem Sender Radio Luxemburg mit dem Titel: „Dieser Sender hetzt nicht mehr gegen uns.“
Viele junge Luxemburger verweigern die Einberufung zur Deutschen Wehrmacht und verstecken sich in den Höhlen, Schlüffs und Felsspalten der so genannten Petite Suisse Luxembougeoise (Kleine luxemburgische Schweiz). In einer Hotelgaststätte in Bollendorf-Pont (jetzt Bollendorf-Brück)  an der Sauer steht der Eigentümer als SA-Mann mit Naziuniform und einem Herzen der Résistance. So gelingt es ihm, die beiderseitige Verbindung zu nutzen und die versteckten Deserteure mit Verpflegung und frühzeitigen Warnungen zu versorgen.


Hohlley, Kleine Luxemburgische Schweiz
Kohlscheuer, Consdorf Luxemburg
Im Zickzackschlüff

Vaters Feldpostnummer

Damit die an meinen Vater gerichteten Briefe trotz der laufenden Ortswechsel seiner Batterie auch stets bei ihm ankommen, schreiben wir folgende Adresse: Gefreiter Peter Weber, Feldpostnummer 15437. Sonst nichts. Die Briefe erreichen Vaters Einheit über eine so genannte Feldpostsammelstelle. Dies ist eine generelle Regelung für alle Truppenteile der Deutschen  Wehrmacht. Alle Feldpostbriefe sind portofrei. So, nun wisst Ihr, was eine Feldpostnummer ist und wie das Ganze funktioniert.

Aus Geheimhaltungsgründen dürfen die Soldaten in ihren Briefen an die Heimat keine genauen Ortsangaben machen. Und so steht in Vaters erstem Brief aus Belgien nur: „Wir befinden uns auf dem Vormarsch durch die Ardennen.“

Ein Bekannter aus Schönau wird später im Jahr 1941, als auch Jugoslawien und Griechenland von deutschen Truppen besetzt sind, nach Hause folgenden versteckten Hinweis über seinen Aufenthaltsort schreiben:

  • Griechen wir bald die Zigarren von Bruder Josef?  (er hat gar keinen Bruder Josef)
  • Land werdet Ihr wohl keines mehr gekauft haben.

So behilft man sich.

Vater wird erst später nach seiner unfallbedingten Entlassung aus dem Wehrdienst berichten, dass seine Einheit bei Namur einen mehrtägigen Zwischenaufenthalt hatte. Diese belgische Stadt an der Einmündung der Sambre in die Maas hat als Festungsstadt mehrere Forts, deren Geschütze den Durchzug der deutschen Truppen mit Sperrfeuer belegen und nicht unerheblich stören. Der Beschuss mit den Feldhaubitzen 10,5 bringt keine nennenswerte Beschädigung der Geschütztürme und die belgischen Geschütze daher auch nicht zum Schweigen. Dann rückt eine Flak- Batterie mit ihren 8,8 Kanonen an, die im direkten Beschuss die Geschütztürme regelrecht wegfegt. Sofort erscheint die Besatzung mit der weißen Fahne und, nachdem die motorisierte Flak- Batterie schon über alle Berge ist, lässt Vaters Einheit wieder die Pferde anspannen. Sie reiten, wie Vater später berichten wird, Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, und sitzen breitbeinig mit wund gerittenen Hintern auf den Rücken ihrer schweren Gäule.

Sie reiten östlich an Paris vorbei bis zur Loire bei Orleans. Und hier, welch glückliche Fügung, erwischt es Vater beim abendlichen Füttern der ausgespannten und in Ställen untergebrachten Pferde: Eines der durch Futterneid unruhig gewordenen Tiere schlägt Vater mit dem linken hinteren Huf so in den Mund, dass das gesamte Gebiss zertrümmert wird. Er wird sofort in eine Lazarett-Einheit in Thorn an der Weichsel in Polen versetzt. In dieser Stadt, die eine wechselvolle Geschichte hat, wurde im Jahre 1473 der spätere Astronom Nikolaus Kopernikus geboren. Die Stadt gehört seit dem Einmarsch der Deutschen Truppen in Polen ab September 1939 zumReichsgau Danzig/Westpreußen  im sogenannten Generalgouvernement. Die schnelle Genesung meines Vaters einerseits und die Genehmigung des UK–Stellungs-Antrags (Freistellung vom Wehrdienst aus beruf-lichen Gründen) führen zu seiner kurzfristigen Entlassung. Und da er uns von Thorn aus nicht geschrieben hat, kennen wir zu Hause auch nicht die dortige Feldpostnummer. Vielleicht haben Lazarette gar keine Feldpostnummer



Das Thorner Wappen lässt die Herkunft des Namens  der Stadt  erkennen: Ein Tor.     

 



Norddeutsche  Backsteinbauweise: Das Thorner Rathaus

Vater berichtet nach seiner Heimkehr, die Polen hätten von der Stadtmauer aus verängstigt zu den Deutschen herübergeschaut. Die Auswirkungen der Rassegesetze waren wohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinreichend bekannt. Und so wie Vater, hatte auch ich keine Ahnung davon, bis eines Tages ein aus seiner Familie herausgerissener Pole in unserem Schönauer Hof in hemmungsloses Weinen ausbricht. Er, ein Bäckermeister, der sein Haus für zugezogene Baltendeutsche über Nacht räumen musste, glaubt nicht mehr an ein Wiedersehen mit Frau und Tochter.

Der VDA (Verein für das Deutschtum im Ausland) in dem wir Schüler Zwangsmitglieder sind, gibt ein paar Monate später statt der früher üblichen Anstecknadeln ein Aquarellbild von Thorn an uns heraus mit dem Titel:

„Thorn, das Straßburg des Deutschen Ostens“.