Die Vorschulzeit

  

Heute, nach einem erfüllten Leben, in Gedanken an der Schwelle verweilend, die das Kind vom Jungen trennt, versuche ich zurückzuschauen. Da verstellen mir die Nebelbänke des Vergessens die Sicht und nur hin und wieder, ganz undeutlich, wird das Kind sichtbar. Etwa die Fahrt mit den Eltern per Eisenbahn nach der Großstadt Köln im Jahre 1931. Da ist der Rhein, dessen Uferwege mit Laternen beleuchtet sind, die sich im Wasser des Stromes spiegeln. Ich stehe am Fenster der Straßenbahn, die, über eine Rheinbrücke fahrend, mir dieses unvergessliche Bild vermittelt. Ich, der vierjährige Junge vom Lande, bin überwältigt und rufe laut (natürlich im Eifeler Dialekt) in den Straßenbahnwagen hinein: „Vatte luhr ens, wat hann die de Baach fein-jemäät“ (Vater schau mal, was haben die den Bach feingemacht). Wie mir Vater später des öfteren schmunzelnd berichtet, versucht Mutter, mich zum leisen Sprechen zu bewegen und eine Dame auf dem gegenüberliegenden Sitz  habe wohlwollend lächelnd gesagt: „Ach, lassen sie das Kind doch!“

"Das ist der Dom, der ist nicht dumm, der fällt nicht um"

Der Dom mit seiner imposanten Höhe jagt mir gewaltigen Respekt ein. Da stehe ich auf meinen dünnen Beinen und habe beim Beobachten der in niedriger Höhe über die Domtürme dahinjagenden Wolkenfetzen den Eindruck, die Domtürme würden sich auf mich zu bewegen. Also mache ich mir selber Mut mit den Worten: „Dat ös deä Dom, deä es net domm, deä fällt net ömm.“ (Das ist der Dom, der ist nicht dumm, der fällt nicht um).

Mehr weiß ich beim besten Willen nicht zu berichten.

 

 Wirklich nicht? Doch da taucht plötzlich wieder ein längst vergessenes und verblasstes Bild aus Kindertagen auf. Ich stehe auf einem kleinen Fußbänkchen und schaue durch das Küchenfenster zum Garten und zu der dahinter liegenden Dorfstraße hinaus. Da erscheint ein großer, mit Schwemmsteinen beladener Lastkraftwagen, dreht und kippt die Steine am Gartenrand ab. Vater kommt zu mir in die Küche und verkündet stolz den Beginn der Hauserweiterung zum Garten hin. Da muss ich meinen Fensterplatz räumen, darf aber für die nächste Zeit unterhalb des Hauses auf dem Pesch oder Peisch, das ist die mit einigen Obstbäumen bestandene Hauswiese, ohne jede Aufsicht spielen.

 

Der Höllenkrätzer

Damit ich nicht zu nahe an den vom Regen der letzten Tage angeschwollenen Bach, es ist der Oberlauf der Erft, herangehe, wird mir erzählt, dass dort unten im Wasser der Hellekrätzer (vermutlich: Höllenkrätzer) lauere und die unfolgsamen Kinder nach unten ziehe. Da wird also aus Zeitgründen die mangelnde Aufsicht durch wirksame Schauermärchen ersetzt. Der Hellekrätzer wirkt immer, weil schon der Name ein Schaudern bei mir hervorruft. Immerhin, weitere Bilder aus der Vorschulzeit kann ich bei noch so scharfem Hinschauen nicht mehr entdecken.

Aber, aber,

Vater liebt es scheinbar, uns Kinder mit kleinen Schauermärchen so zu beeinflussen, dass wir uns bei Einbruch der Dunkelheit ans schützende Elternhaus gebunden fühlen. Und dieses "Sich gebunden fühlen" macht man als Jüngelchen dann auch an sichtbaren Gegenständen fest. So hängt bei uns in der Diele kurz hinter der Haustür ein Kruzifix. Als nun Vater eines Abends von der Glöhnije Jeeß (glühenden Ziege), die angeblich nach Einbruch der Dunkelheit über den nahen Wäldern ihr Unwesen treibt, warnt, sage ich ganz selbstbewusst und  furchtlos:

 "Vatte, de kann hé janet erenn komme, hé hängk nämlich de Liebe Heiland." Das bedarf meines kindlichen Erachtens keiner weiteren Erklärung.

Da ist selbst mein Vater sprachlos, weil er nicht weiß, wie er sich verhalten soll. Der Spontaneität eines Kindes kann er nichts "Brauchbares"  entgegen setzen.

Ich aber bin überzeugt, dass ich meinem Vater jetzt seine unbegründete Furcht ein für allemal von der Seele genommen habe.

Die Glühende Ziege erscheint in den kommenden Monaten und Jahren nicht mehr als ein Erziehungsinstrument in den Abendgeschichten meines Vaters.

 


 

Die glühende Ziege

De "Glönije Jeeß"

Vor der Schulzeit gehe ich mehr spielend durchs junge Leben.

Bin ich einer von wenigen, deren Vorschulerlebnisse später weitgehend verblassen und dem Vergessen anheim fallen werden oder ist das auch den lieben Lesern dieser Zeilen so ergangen?

Manchmal glaube ich, das eine oder andere Erlebnis durch Zurückdenken  wiederzuentdecken, muss dann aber erkennen, dass sich die umnebelten Bilder erst später durch die Erzählungen meiner Eltern, Großeltern und Tanten gebildet haben. Ein Beispiel:

 

Das leibhaftige Unglück

Wenn ich abends im Kreis der Erwachsenen sitze, spiele ich gekonnt den Uninteressierten, der nichts hört und nichts sieht, habe aber in Wirklichkeit beide Ohren auf dem Tisch liegen. Und so "schnappe" ich mir manche Begriffe und Sätze auf, deren wirkliche Bedeutung ich nicht kenne, so auch den Ausdruck: "Ein Unglück hat breite Füße".

Da stehe ich nun eines Tages an unserem Tor zur Straße hin (de Poez) und schaue ein wenig gelangweilt die Dorfstraße hinab. Plötzlich biegt um die nächste Ecke ein Mann mit breiten Füßen und kommt eiligen Schrittes auf mich zu. Oh Schreck! In Windeseile laufe ich ins Büro meines Vaters und rufe atemlos:

 "Vatte, Vatte komm ens flott, do onge kött e Onjlöck de Stroß eropp". (Vater, Vater komm mal flott, da unten kommt ein Unglück die Straße herauf.)

Vater bringt diese kleine Episode in den folgenden Jahren immer wieder als erzählungswerten Witz, über den ich nun überhaupt nicht lachen kann. Aber gerade deshalb ist sie, die kleine Episode, in meinem Kindskopf haften geblieben.

Das Kreuz mit dem Eifler Dialekt

Manche Wörter aus der blumigen Eifler Sprache lassen in meinem Kindskopf verworrene Bilder entstehen. Manche schelmisch veranlagte  Erwachsene nutzen dies aus, um mich mit durchaus ernsthaften und ehrenwerten Begriffen zu foppen.

Als ich meine allmorgendliche Aufgabe erledigt und eine Kanne frischer Milch bei einer nichtbäuerlichen Familie abgeliefert habe, mache ich mich auf den Heimweg. Da werde ich unverhofft von einem mir bekannten Landwirt zurückgerufen: "Saach Jong, komm ens her!"

Als ich dieser Aufforderung folge und ihm in die listigen Augen schaue, sagt er nur diesen einen Satz: "Denge Vatte ös ene ijelije Mann." Ich widerspreche ihm laut und zornig und laufe dann voller Wut im Bauch nach Hause. Was hat mein Vater mit dem Aussehen eines Igels zu tun? Das kann man doch nicht unwidersprochen lassen!

Mein Vater hört sich meinen nervös, also stotternd  vorgetragenen Bericht an und bricht dann zu meinem Erstaunen in schallendes Lachen aus. "Leve Jong, der Mann hat doch nur gesagt, ich sei ein ehrlicher (ijelije) Mann". Im Nachhinein wird selbst mir klar, dass der Landwirt klug genug war, zu wissen, dass dieses allzu selten benutzte Wort diese falsche Deutung bei Kindern hervorrufen würde. Denn Kinder versuchen, neue Begriffe in bildhafte Vorstellungen umzusetzen. Und, Hand aufs Herz, für mich als Kind lässt sich aus dem "ijelich" doch nur "igelig" heraushören, niemals aber "ehrlich".

Nachtrag: Deshalb rate ich heutzutage jedem Deutschen, der sich an dem modernen Denglisch reibt, um Gotteswillen nicht den Eifler Dialekt als allgemein verbindliche Umgangssprache vorzuschlagen. Übrigens: Der Dialekt der Nordeifel gehört zum ripuarischen Dialekt, der sich von Ostbelgien über das Aachener und Dürener Gebiet, sowie Euskirchen, Bonn und Köln bis in den Düsseldorfer Raum erstreckt. 

Die Zentral- und Südeifel zählt hingegen sprachlich zum moselfränkischen Raum.

Als ältester Bruder muss ich schon früh den Platz auf Mutters Schoß räumen, der dann stets von einem der jüngeren Brüder besetzt ist. Auch das hat mich für ein Leben geprägt: Liebe und Sehnsucht werden verdrängt und es wird mir auch später immer schwer fallen, meine Gefühle offen zu zeigen. Wenn ich so tue, als sei ich für solche "Kindereien" zu alt, gehe ich nach draußen auf meine selbstgemachten Spielplätze. Dann lausche ich noch mal kurz zurück und höre, wie meine lieben Brüderchen verwöhnt werden. Das hört sich dann zum Beispiel so an:

Kinnewippchen, rotes Lippchen,

Nuppelnäschen, Wackelöhrchen,

zupf, zupf zupf am Härchen.

Dann schaue ich mit etwas kindlicher Neugier durchs Wohnküchenfenster und sehe, wie meine Mutter  die genannten Gesichtsteile ( Kinn, Lippe, Nase, Ohr) des kleinen Köpfchen beim Aufzählen mit dem Zeigefinger berührt. Ja, so sage ich mir, für diese Kindersprache bin ich nun wirklich zu groß.

 

Kurz darauf, im Jahr 1934, gehe ich nach Ostern zum ersten Mal zur Schule und das, was vorher gewesen war, gerät zum größten Teil in totale Vergessenheit. Bei den vorstehend erzählten Geschichten und Geschichtchen handelt es sich also nur um einige Ausgrabungsstücke.